Eines Tages entdeckte er, …

Eines Tages entdeckte er, dass ihm die Menschen fremd geworden waren. Plötzlich oder allmählich? Er hätte es nicht sagen können. Sie waren ihm fremd geworden, und nicht allein die Menschen, sondern auch die Wörter. Fremd? War ‘fremd’ das richtige Wort? Auch das war unklar. Natürlich kannte er noch die Wörter; er konnte sie voneinander unterscheiden, genau wie die Menschen, aber ihre Bedeutung als gesonderte, eigene, unverwechselbare Wesen war ihm abhandengekommen. Sie hatten ihre Eigenheiten verloren, sie waren austauschbar geworden, und so war es auch mit den Wörtern, deren Sinn er durchaus dem Gedächtnis entlocken konnte, so, wie man in einem Wörterbuch die Bedeutungen von Begriffen nachschlagen kann. Das war es. Die Menschen und die Wörter hatten ihre offiziellen Bedeutungen behalten, anders konnte es nicht sein, aber für ihn war beides unbedeutend geworden, und er runzelte die Stirn und zog die Lippen zusammen und fragte sich, ob diese Veränderung ihrerseits von Bedeutung für ihn war. Wenn ja, dann musste sie ihm grösste Sorgen bereiten, wenn nein, dann konnte er gleichgültig darüber hinwegsehen, ja er hätte dann gar folgern können, dass das Ganze für ihn im Grunde eine Befreiung war. Er brauchte sich um ganz vieles nicht mehr zu kümmern. Er konnte wie zuvor weiterleben, ja besser als zuvor, er konnte seinen Alltag wie zuvor bewältigen, ja eben leichter, denn er würde sich deutlich weniger ärgern, er würde sich nicht mehr ob der menschlichen Unzulänglichkeiten aufhalten, er würde gelassener seinen Weg gehen – stoischer, wie er sich durchaus erinnerte, denn nicht der Sinn der Wörter war ihm abhandengekommen, sondern ihre Bedeutsamkeit. Er wusste durchaus, was sie hiessen, konnte sie auch bei Bedarf anwenden. Er konnte auch mit den Menschen weiterhin auskommen; er wollte und brauchte sich nicht etwa zurückzuziehen. Das beruhigte ihn ungemein, und er beschloss, das Leben nun leichter zu nehmen, morgens unbeschwerter aufzustehen und in den Tag zu steigen. Dem Leben, seinem Leben, tat das keinen Abbruch, er wusste, ja, was er zu tun hatte; er wusste, was von ihm erwartet wurde, und er war weiterhin durchaus willens, diese Erwartungen zu erfüllen – aber auch sie waren ohne Bedeutung für ihn; es war vollkommen ausreichend, wenn sie für die anderen bedeutend waren. Im Nachhinein wunderte er sich, dass er wie die meisten Menschen, wie alle jedenfalls, die er kannte, alles und jedes mit Bedeutung befrachtet, ja bis zur Unkenntlichkeit beladen hatte, und dass dieses Beladen und Beschweren mit Bedeutungen die Sache selbst womöglich nicht klarer, sondern unklarer gemacht hatte. Er folgerte, dass mit etwas Glück dieser nun eingetretene Bedeutungsschwund die Welt, die ganze Welt, die Menschen und die Wörter, die Reden, das Geschreibe für ihn in neuem Licht und deutlich präziser, eigentlicher und – wenn er das grosse Wort in den Mund nehmen wollte – wahrer erscheinen würde.

Der Waggon der roten Schmalspurbahn …

Der Waggon der roten Schmalspurbahn war bis auf den letzten Platz besetzt. Rucksäcke und Rollkoffer standen herum, Skis und Snowboards; Mütter und Väter hatten ihre Kinder ordentlich platziert, die Hunde lagen unter den Sitzbänken; eine Katze miaute ab und zu in einem Bastkäfig. Der Himmel dunkelte; die schweren, bewaldeten Berge schoben sich von Fenster zu Fenster und verschwanden plötzlich, wenn der Zug einen Tunnel passierte. Der Tag war kalt und sonnig gewesen, und Müdigkeit stand auf den Gesichtern der schweigsamen Touristen. Continue reading

Im Schneidersitz …

Im Schneidersitz sass sie im Zug, in jenem Grossabteil, an dem alle Passagiere vorbeigehen müssen. Sie drapierte energisch ihr dichtes dunkles Haar und steckte es mit Nadeln hoch, war aber offensichtlich nicht zufrieden damit und begann mehrfach von Neuem. Dann rückte sie ihr Bäuchlein zurecht – womöglich war sie schwanger – und versuchte es nochmals mit dem Haar. Nach einem kurzen Trunk aus der Flasche mit Saft kramte sie in ihrer Tasche und fand ein Öl, womit sie Nacken und Hals einrieb. Zwischendurch streckte sie sich, lockerte die Wirbelsäule, dann doch nochmals etwas Öl auf den Nacken. Es folgten einige Gymnastikübungen. Es war Sonntagabend im Zug und draussen bereits dunkel. Sie war wohl auf der Rückfahrt von einem Workshop zum Thema «Weibliches Körperbewusstsein», und die Frau, nicht mehr ganz jung, war sich ihres Körpers sichtlich bewusst, so bewusst, so demonstrativ bewusst, dass ich als Nächstsitzender unwillkürlich in diesen Bewusstseinsprozess einbezogen wurde. Ihre hier in der Eisenbahn weitergeführten Bewusstseinsübungen liessen mich die Bewusstheit meines eigenen Körpers verlieren, sosehr fühlte ich mit ihr und ihrem Körper. Sie strahlte eine Selbstzufriedenheit oder Selbstgewissheit aus, ja drang damit in meinen Inneres und machte sich da breit, und so kam mir mein eigener, sozusagen nur noch restlicher Körper kläglich klein, steif und unbeweglich vor; und neidisch verfolgte ich ihre Körperdemonstration, ihre Weite und Breite, und nie hätte ich es gewagt, meinerseits durch entsprechende Übungen verlorenes Terrain zurückzuerobern.