… ist mir die Leibnizsche Monadentheorie fremd und unverständlich geblieben, aber wenn schon, dann könnte man sich jene leuchtenden und empfindsamen Seelchen doch etwa so vorstellen …

… mir vorstellen», meinte sie, «meinen Lebensabend in …

Sie sassen im Nebenabteil, eine Frau und ein Mann, befreundet, ein befreundetes Paar, eine Lebensgemeinschaft, vielleicht noch nicht lange, zwei Kinder daneben, beinahe schon Jugendliche, die während der ganzen Fahrt schwiegen. Vertieft in ein Handyspiel. Nur das Paar sprach. Laut.

Darf man Leute belauschen? Nein, das darf man natürlich nicht. Aber darf man andererseits in der Eisenbahn so laut sprechen, dass die Nachbarn unwillkürlich ab- und auf sich gelenkt werden? Ja, das wiederum ist gestattet. Denn es könnte ja sein, dass auch die weitere Umgebung über die eigene Weltgewandtheit informiert sein will. Die Eisenbahn ist ein idealer Ort dafür.

«Ich könnte mir vorstellen», meinte sie, «meinen Lebensabend in Zobriswil zu verbringen. Ein schönes Dorf.»

Wir fuhren eben am Zobriswiler Bahnhof vorbei. Kiosk, Parkplatz, verlassener Schuppen, das Bahnhofplätzchen, Wohnhäuser, ein kleiner Bauernhof, Berge dahinter, dann bereits wieder Wiesen und Obstbäume. So, wie es eben hierzulande aussieht. Durchs andere Wagenfenster ist der Fluss sichtbar. Hierzulande sind immer Fluss und Berge sichtbar.

«In Zobriswil. Unbedingt, ein schöner Ort. Schöne Häuser. Auch landschaftlich schön. Man kann wandern.» Nach einer Pause präzisierte sie: «In Zobriswil, im Alter – ohne weiteres. In Zobriswil – oder in Marrakesch.»

«In Marrakesch?», fragte er.

«Genau, in Marrakesch. Marrakesch ist ebenfalls schön. In Marrakesch könnte ich leben.»

Er sei auch schon einmal dagewesen, in Marrakesch, offenbar nicht mit ihr, sondern sonst einmal. «Marrakesch ist wirklich schön», betonte sie, «man kann da ohne weiteres sein.»

Er bestätigte, dass Marrakesch schön sei, aber er seinerseits könnte sich genauso gut vorstellen, einmal in Kalamata zu leben, Kalamata sei ebenfalls wunderschön. Das kenne sie nicht, meinte sie, … Er unterbrach, das sei in Griechenland, und es sei schön. Am Meer.

Kalamata oder Marrakesch, oder Zobriswil. Nein, sie kenne in Zobriswil eigentlich keine Leute, sie sei aber schon mehrfach dagewesen und könnte da wohnen. Im Alter. Es folgten Hinweise auf frühere Reisen und die Pläne für die Reisen im nächsten Jahr, und man müsse früh buchen, und nicht so ganz klar wurde, ob sie künftig miteinander reisen würden, der Mann empfand es jedenfalls als seine Aufgabe, allfällige Reisewünsche in Planbares umzuwandeln, er kenne sich gut aus im Vorbereiten von Reisen.

Das Alter ist die Zeit, in der man nicht mehr arbeiten muss, sondern pensioniert ist und die verdiente Pension geniessen kann. Man kann darüber hinaus wählen, ob man in Marrakesch, Kalamata oder Zobriswil wohnen will. Es ist die Traumzeit und das Traumland. Das Land wo alles möglich ist. Vielleicht könnte man sich auch eine Wohnung in Marrakesch besorgen und eine in Kalamata und eine dritte in Zobriswil. Und dann könnte man nach Lust und Laune, von einem Ort zum anderen fliegen, von Kalamata nach Zobriswil, von Zobriswil nach Marrakesch nach Lust und Laune, und natürlich auch gemäss den klimatischen Verhältnissen.

Im Winter könnte es allerdings je nachdem kalt sein, nicht in Zobriswil, sondern in Kalamata zum Beispiel, denn die Wohnungen haben da nicht unbedingt Heizungen. Die könnte man natürlich einbauen. Man könne in Kalamata ohne weiteres eine Heizung einbauen lassen, aber man müsste sich vorsehen, womöglich kennen sich die Sanitärinstallateure in Kalamata nicht wirklich aus und haben nicht unseren Standard und man müsste somit alles hierzulande besorgen und hinbringen. Aber dann könnte man ohne weiteres den Lebensabend …

… das winterliche Morgensonnenglück leuchtete und versprach unbeschwerte Tage …

Eines Tages entdeckte er, …

Eines Tages entdeckte er, dass ihm die Menschen fremd geworden waren. Plötzlich oder allmählich? Er hätte es nicht sagen können. Sie waren ihm fremd geworden, und nicht allein die Menschen, sondern auch die Wörter. Fremd? War ‘fremd’ das richtige Wort? Auch das war unklar. Natürlich kannte er noch die Wörter; er konnte sie voneinander unterscheiden, genau wie die Menschen, aber ihre Bedeutung als gesonderte, eigene, unverwechselbare Wesen war ihm abhandengekommen. Sie hatten ihre Eigenheiten verloren, sie waren austauschbar geworden, und so war es auch mit den Wörtern, deren Sinn er durchaus dem Gedächtnis entlocken konnte, so, wie man in einem Wörterbuch die Bedeutungen von Begriffen nachschlagen kann. Das war es. Die Menschen und die Wörter hatten ihre offiziellen Bedeutungen behalten, anders konnte es nicht sein, aber für ihn war beides unbedeutend geworden, und er runzelte die Stirn und zog die Lippen zusammen und fragte sich, ob diese Veränderung ihrerseits von Bedeutung für ihn war. Wenn ja, dann musste sie ihm grösste Sorgen bereiten, wenn nein, dann konnte er gleichgültig darüber hinwegsehen, ja er hätte dann gar folgern können, dass das Ganze für ihn im Grunde eine Befreiung war. Er brauchte sich um ganz vieles nicht mehr zu kümmern. Er konnte wie zuvor weiterleben, ja besser als zuvor, er konnte seinen Alltag wie zuvor bewältigen, ja eben leichter, denn er würde sich deutlich weniger ärgern, er würde sich nicht mehr ob der menschlichen Unzulänglichkeiten aufhalten, er würde gelassener seinen Weg gehen – stoischer, wie er sich durchaus erinnerte, denn nicht der Sinn der Wörter war ihm abhandengekommen, sondern ihre Bedeutsamkeit. Er wusste durchaus, was sie hiessen, konnte sie auch bei Bedarf anwenden. Er konnte auch mit den Menschen weiterhin auskommen; er wollte und brauchte sich nicht etwa zurückzuziehen. Das beruhigte ihn ungemein, und er beschloss, das Leben nun leichter zu nehmen, morgens unbeschwerter aufzustehen und in den Tag zu steigen. Dem Leben, seinem Leben, tat das keinen Abbruch, er wusste, ja, was er zu tun hatte; er wusste, was von ihm erwartet wurde, und er war weiterhin durchaus willens, diese Erwartungen zu erfüllen – aber auch sie waren ohne Bedeutung für ihn; es war vollkommen ausreichend, wenn sie für die anderen bedeutend waren. Im Nachhinein wunderte er sich, dass er wie die meisten Menschen, wie alle jedenfalls, die er kannte, alles und jedes mit Bedeutung befrachtet, ja bis zur Unkenntlichkeit beladen hatte, und dass dieses Beladen und Beschweren mit Bedeutungen die Sache selbst womöglich nicht klarer, sondern unklarer gemacht hatte. Er folgerte, dass mit etwas Glück dieser nun eingetretene Bedeutungsschwund die Welt, die ganze Welt, die Menschen und die Wörter, die Reden, das Geschreibe für ihn in neuem Licht und deutlich präziser, eigentlicher und – wenn er das grosse Wort in den Mund nehmen wollte – wahrer erscheinen würde.