Nachlass

Er war Künstler gewesen. Und das hiess, dass er sich eine gewisse Exaltiertheit hatte zulegen müssen, ein Markenzeichen, und das war seine Art eleganter Kleidung, die ihn mit alten Meistern verband. Diese hatten sich bekanntlich stets modisch porträtiert. Schinzenberger hatte sich aber von diesen auch wieder rechtzeitig abgesetzt, indem er sich einen gewissen informellen Malstil zu eigen gemacht hatte, auch er modisch und trotzdem zeitlos, wie er befand. Und früh hatte er sich eine Galerie geneigt gemacht, die bekannt und erfolgreich geworden und international vernetzt war. So gelang es Schinzenberger, sich als Maler, als Kunstmaler einen Namen machen, ja es gelang ihm sogar, von seiner Kunst zu leben.

Er war eine bekannte Grösse geworden, seine Ausstellungen wurden in den Medien erwähnt und gerühmt, die Kritiken lobten seine Beständigkeit, die aber nie in Erstarrung mündete, sondern doch einen langsamen Wandel und Reifungsprozess ermöglichte. Schinzenberger lebte für seine Kunst.

Er war ein fleissiger Künstler – der aber auch Pausen einlegen konnte, bewusste schöpferische Pausen, in denen er herumzog, einem eher unsteten Leben frönte, das Mass im Essen und Trinken bewusst ausreizte, ja überschritt, und sich mit Frauen einliess, die auf ein grosszügiges Verwöhntwerden Wert legten und sich rasch wieder von ihm abwandten, was ihm durchaus gelegen kam. In seinen schöpferischen Phasen blieb er nüchtern, beinahe asketisch, doch zeigte dafür seine Malerei mit dem opulenten Bildformat, den kräftigen Farben und den verwegenen, doch bewusst gesetzten Pinsel- und Spachtelschwüngen eine von weitem wahrnehmbare Grandezza, die womöglich Grund für seinen Erfolg und seine Beliebtheit bei den kaufkräftigen Sammlern war.

So interessierten sich auch öffentliche Stellen für seine Arbeiten, und es gelang ihm, zu Ausstellungen im musealen Raum eingeladen zu werden; Schinzenberger zeigte Aktuelles oder Retrospektiven und wurde eine über die Landesgrenzen hinaus bekannte Kunstgrösse.

Doch er kam in die Jahre, Gebresten zeigten sich, und auch für ihn war das Altwerden keineswegs eine leichte Angelegenheit. Und rascher, als er es sich versehen konnte, war es so weit. Er wurde aus dem irdischen Leben abberufen. Doch Schinzenberger, der in lockeren Stunden immer wieder die Mitmenschen belächelt hatte, die an die Unsterblichkeit und an ein Leben nach dem Tode, ja an ein Leben in himmlischem Glück glaubten, an eine irgendwie geartete Erlösung von Übel und Tod, ausgerechnet Schinzenberger wurde für ein solches himmlisches Leben ausgesucht.

Er wurde in die ewige Glückseligkeit aufgenommen, offensichtlich nicht als einziger, denn der Himmel, der sich ihm weit öffnete, war ziemlich bevölkert, wie er feststellen musste. Bevölkert von beseelten Wesen, die da ein unbeschwertes Leben genossen, wie er rasch merkte: Keinerlei Sorgen drückten, keine Krankheiten oder Behinderungen waren zu erkennen, überall herrschte eine uneingeschränkte Zufriedenheit.

Schinzenberger wunderte sich – und musste sich seinen Irrtum eingestehen. Er hatte sich alles genau umgekehrt vorgestellt: Seine Leiblichkeit würde absterben, sein bewusstes Leben ein Ende finden, aber seine Werke würden überleben, ja würden in den Hallen der Kunst, in den Museen aufbewahrt und noch und noch gezeigt werden, würden also seinen Geist weitertragen und ihm so eine spirituelle, ästhetische Unsterblichkeit ermöglichen.

Nun aber hatte er sich den neuen Verhältnissen anzupassen, und das gelang ihm überraschend gut, denn im Himmel leidet niemand an irgendeinem Mangel. Weil niemand etwas benötigte. Er musste feststellen, dass er nicht nur keinerlei Beschwerden verspürte – nichts von dem, was ihn in den letzten Lebensjahren geplagt hatte –, sondern dass auch keine weiteren Bedürfnisse aufkamen. Er hatte keinen Hunger, keinen Durst, auch keinen Appetit oder kein noch so winzig geartetes Verlangen nach irgendeiner Lustbarkeit. Das Leben im Himmel – wenn es als solches bezeichnet werden kann – war vollkommen gesättigt und bedürfnislos.

Rasch merkte er auch, dass in den elysischen Gefilden eine gewisse Ordnung herrschte, dass man zwar herumwandeln konnte, aber nur zu Fuss, es gab keinerlei mechanische Fortbewegungsmittel. Man blieb also mehr oder weniger in der Region, in die man unmittelbar eingewiesen worden war, und Schinzenberger wurde gewahr, dass man ihn bei den Malern einquartiert hatte. Rundherum waren nicht nur Maler, sondern vor allem auch Malerinnen, denn seit einiger Zeit hatten diese ihre männlichen Schaffenskollegen, an schierer Zahl gemessen, bei weitem ausgestochen.

Immerhin war auch das Zusammenleben im Himmel, wie er feststellen konnte, problemlos und friedlich und ohne jegliche Eifersüchteleien, die er vom Erdenleben her nur allzu gut kannte. Allerdings waren auch keine Leidenschaften irgendwelcher Art in Sicht, wie er mit einem gewissen Bedauern zur Kenntnis nahm, keine Verliebtheiten, kein Begehren, kein Flirten, sondern nur ein wohlwollendes Grüssen und ein gegenseitiges Lobpreisen des Umstandes, in derart ungetrübtes Glück gelangt zu sein.

Schinzenberger musste allerdings auch zur Kenntnis nehmen – und das hatte ihm doch einen Stich versetzt – dass in diese Malerabteilung unterschiedslos Malerinnen und Maler geschoben wurden, sowohl unterschiedslos hinsichtlich ihrer Talente als auch hinsichtlich ihres Erfolgs. Das hiess, die allermeisten dieser Mitbewohner nannten sich zwar Künstler, Maler, Gestalter, Bildner, Designer, doch einen wirklichen Ruf, ja einen respektablen Bekanntheitsgrad konnten die allerwenigsten vorweisen, genauer gesagt, es war im grossen Umkreis niemand so bekannt gewesen wie er, Schinzenberger, selbst. Natürlich musste er einschränken, dass er sich auch nicht allzu sehr um seine Konkurrenz gekümmert hatte, also das Renommée seiner Nachbarn im Himmel nicht objektiv abschätzen konnte.

Dass er aber in seiner Einschätzung nicht falsch lag, zeigte sich schon bald: Schinzenberger war umringt von einer Schar von Dilettanten. Von Möchtegernmalern, von irgendwelchen unbekannten Illustratoren oder Zeichnern, sogar von Sonntagsmalern, die es im Himmel aus unerfindlichen Gründen ins Malerquartier geschafft hatten.

Nach längerem Überlegen entschloss er sich, das Unabänderliche anzunehmen, nicht zuletzt, weil er annehmen musste, dass dem Himmel eine Hölle entsprechen könnte, der er – obwohl ungläubig und unfromm – offensichtlich entronnen war, und weil eine unbedachte und vorschnelle Opposition im schlimmsten Falle mit dem Entzug der himmlischen Gnade hätte beantwortet werden können. Eine gewisse Kompensation für seine wenig rühmliche Platzierung war, dass der Himmel auf eine eigenartige Weise mit dem Irdischen verbunden blieb. Denn die Unsterblichkeit, die er mit seinem Werk erreichen wollte, hatte zu Folge, dass dieses Werk und sein Schöpfer auf Erden erst in Nachrufen, dann aber auch bei Museumsbesuchen oder anlässlich von Führungen Gesprächs- und Kommentarstoff hergab. Würdigungen. Kritiken. Bezüge zur zeitgenössischen Malerei und Kunst. Und alle diese Erwähnungen seines Werks und seiner Person wurden ihm, Schinzenberger, in aller Ausführlichkeit zeitgleich zur Kenntnis gebracht. Ein Summen oder Vibrieren ging jedes Mal voraus, das ihn aufmerksam machte, dann folgte das Zitieren. Dies tröstete ihn. Sein Werk blieb – nicht in aller, doch in vieler – Munde. Es ging nicht vergessen, und er selbst ging auf Erden ebenso wenig vergessen.

Und da all die Zitate rundherum hörbar waren, wurden auch seine Himmelsnachbarn, die ungerühmten Kolleginnen und Kollegen, mit seiner irdischen Bedeutung bekannt gemacht. Schinzenberger war versöhnt und höchst zufrieden, wie es dem Aufenthalt im glückvollen Himmel auch angemessen war.

Diese Zufriedenheit Schinzenbergers dauerte eine ganze Weile, ja eine lange Zeit, wobei das schwierig abzuschätzen ist, da Zeit angesichts der himmlischen Ewigkeit eine unmessbare Grösse darstellt. Und doch, es musste im Himmel so etwas wie Zeit geben, denn Schinzenbergers Zufriedenheit veränderte sich allmählich, in kleinsten, unmerkbaren Schritten, und schliesslich musste er sich eingestehen, dass sie sich in einen unerträglichen Dauerärger verwandelt hatte. Ausgerechnet diese regelmässigen Mitteilungen seiner irdischen Grossartigkeit waren – belästigend. Waren reine Belästigung. Qual. Während seine Mitbewohner sich aller Ruhe erfreuten, wurde er dauernd mit denselben stereotypen Mitteilungen, die ihn bald einmal nicht mehr interessierten, konfrontiert. Ja, er hatte diese Bilder gemalt, ja, sie hingen in irgendeinem Museum oder im Esszimmer irgendeines vermögenden Sammlers, ja, es zeigte sich in ihnen eine feinsinnige Ästhetik, ein sicheres Formgefühl, eine überraschende Intuition, ein … Schinzenberger konnte die Worte nicht mehr hören, sie gingen ihm auf die Nerven. Und er begann, seine unbedeutenden Mitbewohner zu beneiden. Sie wurden in aller himmlischen Ruhe gelassen, weil ihre Werke längst vergessen und verschwunden waren und sich niemand mehr an ihre Namen erinnerte und um ihre Werke kümmerte.

Als Schinzenberger vor dauernder Belästigung dem Zusammenbruch nahe war, entschloss er sich, Beschwerde einzulegen. Nach langem Suchen fand er auch – nein, nicht Gott, wie er erwartet hatte, sondern – einen eher unscheinbaren Verwalter, der da und dort in aller Gemächlichkeit zum himmlischen Rechten schaute, jedoch nicht viel Arbeit hatte, weil ja alles zur Zufriedenheit bestellt war. Er nahm Schinzenbergers Klage zur Kenntnis, was allerdings keinerlei Konsequenzen hatte. Erst als Schinzenberger mit immer höherer Kadenz diesen Verwalter aufsuchte und ihn mit seinen Klagen bedrängte, war er zu einer Reaktion bereit. Er betonte jedoch, dies stelle eine ganz besondere Gunst dar und Schinzenberger möge sich reiflich überlegen, ob er davon Gebrauch machen wolle: Man sei bereit, ihn nochmals zurück auf die Erde zu lassen. Es sei dann ihm allein anheimgestellt, wie er dafür sorgen wolle, wirklich der himmlischen Ruhe teilhaftig zu werden.

Und prompt war Schinzenberger wieder auf der Erde. Das hatte er nicht erwartet; und er war keineswegs begeistert darüber. Er hatte sich bereits an die Schwerelosigkeit im Himmel und in den Wolken gewöhnt, an das leichte Leben, und an die damit verbundenen Annehmlichkeiten. Sich um nichts kümmern zu müssen. Kaum auf Erden waren wieder die üblichen Widerwärtigkeiten spürbar, zuallererst Durst und Hunger – und die Erkenntnis, dass er nur noch entfernt dem früheren Schinzenberger glich. Er war ein anderer Mensch, zwar mit ungefähr gleichen Proportionen – und immerhin wieder ein Mann, was ihn beruhigte. Trotzdem war er sich fremd. Und: Er war mittellos, wie er mit Schrecken feststellte. Er hatte keine Bleibe, keine Unterkunft, trug nur eine einigermassen unauffällige Kleidung, die wenigstens nicht schäbig wirkte, aber mit seinem früheren gepflegten Äusseren nicht zu vergleichen war.

Es dauerte seine Zeit, bis sich Schinzenberger wieder fasste. Er fand nach einigem Suchen eine öffentliche Toilette, wo er nicht nur seine Notdurft verrichten, sondern sich auch im Spiegel betrachten konnte. Fremd. Er sah fremd aus, aber doch nicht vollkommen fremd, sondern einigermassen in seinem eigenen Habitus, und das war auch der Grund, warum er halbwegs unauffällig sich bewegen, die Hände waschen und sich auch an- und auskleiden vermochte.

Dabei entdeckte er in seinen Kleidern eine Geldtasche, die allerdings leer war. Nicht ganz leer, wie er erleichtert feststellte, denn im hintersten Fach steckte eine Bankkarte. Schinzenberger war genügend besonnen und beharrlich, um minutiös die ganze Kleidung zu durchsuchen, und prompt zeigte sich in einem Falz der Hose ein winziger zerknüllter Zettel, worauf eine Zahl in zittriger Schrift geschrieben war. Womöglich und mit Glück: der Code für die Karte. Das musste er auch sogleich unter Beweis stellen, denn die Toilette war tributpflichtig, und Schinzenberger war gezwungen, mit der Karte zu bezahlen, was erstaunlicherweise problemlos funktionierte.

Er war also wieder auf Erden. Ohne Behausung, aber mit einer Bankkarte. Diese probierte er ein zweites Mal an einem Bankomaten aus, und siehe da: Der Schlitz spendierte die gewünschten Noten. Als Nächstes machte er sich auf die Suche nach einer Unterkunft, das heisst, nach einem Hotel. Allerdings erwies sich dies als anstrengend, den kein Handy befand sich in den Kleidern, und Schinzenberger, der in einem Aussenquartier gelandet war, musste erst durch lange Strassenzüge marschieren, bis er fündig wurde. Das Zimmer entsprach seinen Wünschen, und er bezahlte mit der Karte für einige Tage im Voraus.

Er war erschöpft, als er anlangte; Hunger und Durst waren gewachsen, doch konnte er sich im Hotel verpflegen und genoss es, wieder einmal essen und trinken zu können. Auf dem langen Weg zum Hotel musste er feststellen, dass er auch hienieden den lästigen Nachrichten und Zitaten ausgesetzt war. Immer wieder hörte er sein Werk kommentierende Stimmen, und es war ihm längst egal geworden, ob er und sein Werk in lobendem oder kritischem Sinne erwähnt wurden.

Bald einmal war er zur Erkenntnis gekommen, dass es nur einen Weg gab, sich von diesen Belästigungen zu befreien und die himmlische Ruhe zu gewinnen: Er musste seine Werke, denen er ein ewiges Leben prophezeit hatte und mit denen er sich selbst in den Stand der Unsterblichkeit hatte versetzen wollen, zum Verschwinden bringen. Diese Erkenntnis traf ihn schwer und lähmte ihn erst einmal, denn gerade dieser Wunsch nach ewiger Bekanntheit war ihm im Laufe des Älterwerdens zum wichtigsten Schaffensansporn geworden. Doch dann fasste sich Schinzenberger wieder. Es musste sein. Himmlischer Seelenfrieden war wichtiger als stetes Geschwätz von allen Seiten, das sich mit der Zeit ja unendlich wiederholen würde.

Als Nächstes musste er feststellen, dass das Verschwindenlassen alles andere als einfach sein würde. Er lag die längste Zeit auf dem Bett des Hotels und starrte an die Decke, bis er zur Einsicht kam, dass Verschwindenlassen gar nicht möglich war. Er konnte sie unkenntlich machen, sie zerstören, aber sie würden immer noch da sein. Immerhin, Schinzenberger atmete auf: das war der Ansatz eines Plans. So schlief er recht gut – zum ersten Mal seit langem wieder, denn im Himmel wird auch nicht geschlafen – und am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, schritt er stracks zum ihm vertrauten Fachgeschäft und kaufte sich eine Dose schwarzen Sprays, die er in der Innentasche seines weiten Sakkos verstaute. Damit zog er zum städtischen Museum, wo in der Abteilung für Gegenwartsmalerei eines seiner Werke hing. Absichtlich machte er einen grossen Bogen durch etliche Räume und spielte das gelassene Interesse von gewöhnlichen Museumsbesuchern, bis er endlich bei seinem Ziel anlangte, da aber Geduld wahren musste, weil erst eine gelangweilte Schulklasse den weitreichenden Ausführungen der Museumspädagogin ausgesetzt war und anschliessend der Wächter sich in den Eckstuhl setzte und vor sich hindöste.

Schliesslich aber war es so weit. Der Wächter erhob sich, schritt gemächlich aus dem Raum; Schinzenberger wartete einen kurzen Moment, um sicher zu sein, dass der Mann nicht unvermittelt zurückkehrte, riss die Spraydose aus der Tasche und drückte auf den Knopf. Doch nichts geschah, bis Schinzenberger realisierte, dass die Dosensicherung entfernt werden musste. Das dauerte eine Ewigkeit, und bereits waren Besucher im Nebenraum zu hören, da fasste Schinzenberger Mut und drückte ab. Das Spraygeräusch war zwar vernehmlich, immerhin wandelte die gesprühte Schwärze in kürzester Zeit sein Bild in eine düster lastende Wolke.

Schinzenberger schob die Spraydose wieder in sein Jackett, unterdrückte den Drang zur Flucht und spazierte gemächlich durch die anliegenden Räume, bis er in die Eingangshalle zurückkehrte und auf die Strasse trat. Draussen erwartete er eine baldige Reaktion, Sirenenalarm oder wenigstens ein heranbrausendes Polizeiauto, aber nichts geschah. Bis zur Schliessung des Museums keine Reaktion. Der Angriff auf sein Bild schien nicht bemerkt worden zu sein, und Schinzenberger wunderte sich über die Nachlässigkeit der Verantwortlichen.

Er schloss daraus, dass er in Zukunft radikaler vorgehen musste. Bild und Wand mussten geschwärzt werden, nicht aber die benachbarten Werke, denn das würde unberechenbare Konsequenzen mit sich bringen. Er brauchte nur seine eigenen Werke zu zerstören, um selbst in Vergessenheit zu geraten. Am nächsten Tag fuhr er in die Nachbarstadt, besuchte das dortige Museum, ein eher unscheinbarer Bau, eine ebenso unscheinbare Sammlung, und eines seiner Bilder. Nicht einmal eine Aufsicht war da, nur die schläfrige junge Dame an der Kasse; heikler war, dass er der einzige Besucher war. Die Dame würde sich sicherlich an ihn erinnern, sobald man seine Werkzerstörung entdeckte. Aber er musste vorwärtsmachen. Pro Tag ein Bild. Mindestens.

Er hatte Glück. Sein Werk hing versteckt hinter einem Holzträger der Dachkonstruktion, an unattraktivster Stelle, und Schinzenberger wäre früher, als er noch richtig lebte, höchst beleidigt gewesen. Jetzt aber vereinfachte es seine Tat. Er sprayte ausgiebig schwarze Farbe über die Leinwand, ebenso über den Holzbalken, sparte überhaupt nicht, sondern drückte nochmals kräftig nach.

Dann besuchte er die anderen Räume, verweilte aber nicht mehr so lange wie am Vortag, denn als Einzelner war er exponiert. Wiederum konnte er ungehindert die Sammlung verlassen und auf die Strasse treten. Diesmal hatte er Erfolg. Die Polizei erschien – nicht gerade mit Sirene, aber immerhin im Eiltempo. Zwei Beamte stiegen aus und verschwanden im Museum, und Schinzenberger fand, es sei an der Zeit, wieder mit der Bahn zum Hotel zurückzukehren.

Doch statt dass er nun seine Ruhe gehabt hätte, wurde er von Neuem und noch mehrstimmiger belästigt: Anschlag auf Gegenwartskunst. Zerstörung zweier Gemälde eines kürzlich verstorbenen Künstlers. Rätselhafter Vandalismus gegen Schinzenberger. Die Medien überboten sich in Vermutungen über deren Urheberschaft. Alles wurde Schinzenberger getreulich weitergereicht. Dabei hatte er mit der Zerstörung erst angefangen, und er brauchte keine grosse Fantasie um sich vorzustellen, dass nun die Museen besonders genau bewacht und weitere Anschläge gegen seine Werke von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein würden. Schinzenberger zog sich in sein Hotel zurück und grübelte. Zum Essen ging er nur kurz ins Restaurant hinunter und auch das nur unwillig, er hatte sich bereits an die wunschlose und bedürfnislose Zufriedenheit im Himmel gewöhnt.

Es musste einen besseren Weg geben, um diesem Gerede über ihn und über sein Werk ein Ende zu setzen. Es war zwar mehrheitlich positiv, lobend, anerkennend, aber das interessierte Schinzenberger längst nicht mehr, zumal es Wiederholungen des stehts Gleichen waren – Kunstwerke mögen schöpferisch sein, das Geschwätz darüber ist es keinesfalls. Im Gegenteil. All die Worte, in denen sich ihm unbekannte Menschen über seine Werke äusserten, liessen Schinzenberger an deren Qualität zweifeln. Vor allem äusserten sich die meisten, nachdem sie sich nur zwei oder drei Augenblicke mit einem Bild befasst hatten, und gaben nichtssagende Kommentare, die ihm ausnahmslos hinterbracht wurden – während er selbst doch so lange an seinem Werk herumstudiert und sich den Kopf zermartert hatte.

Es dämmerte ihm, dass er alles grundsätzlicher, viel grundsätzlicher anpacken musste. Dass er nicht nur sein Werk, sondern seine Reputation, seinen Ruf zerstören musste. Und zwar derart radikal, dass man nie mehr von ihm sprechen würde, weder von ihm noch von seinen Bildern. Alles würde in Vergessenheit geraten – und nichts mehr seinen himmlischen Frieden schmälern.

Das hiess: Er musste seine ganze eigene Sammlung zerstören. Diese hatte er in einem Container ausserhalb seines Ateliers gelagert. Das war der nächste Schritt. Den Container fand er unversehrt. Er hatte ihn seinerzeit gekauft, in einem Lagerareal; er war nicht billig gewesen, aber ideal für seine Zwecke. Und unversehrt war er immer noch – so überlegte Schinzenberger –, weil wohl unklar war, wer die Sammlung aller unverkauften Bilder und aller Skizzen erben würde. Schinzenberger hatte keine Nachkommen und war unliiert. Seit jeher.

Er war irgendwelchen unübersehbaren Bindungen immer ausgewichen, vernünftigerweise, wie er stets der Überzeugung war. Freiheit war Schicksal und Pflicht von echten Philosophen und ebenso von echten Künstlern. Das hatte ihn nicht daran gehindert, mit Lust dem weiblichen Geschlecht zugetan zu sein und bis ins vorgerückte Alter erotischen Abenteuern zu frönen.

Der Container war noch genau so, wie er ihn das letzte Mal verlassen hatte. Den Schlüssel hatte er an einer Ecke unter den Metallträger versteckt. Alles wie erinnert. Aber er musste auch hier einen Anschlag vortäuschen, das heisst, irgendwie die Metalltür aufbrechen und alles in Brand stecken. Das erwies sich als unmöglich. Die Tür war massiv, und Schinzenberger verfügte weder über geeignetes Werkzeug noch entsprechendes technisches Verständnis. Er musste also das Schloss wieder mit dem Schlüssel öffnen, diesen stecken lassen, und so ein Eindringen vortäuschen. Benzin und Lunte besorgen, Feuerzeug – und ein letztes Zögern und Zaudern vermeiden.

Das funktionierte leidlich, wenn es auch nicht zu loderndem Feuer, sondern nur zu einem Motten mit viel Rauch kam. Das würde trotzdem reichen, hoffte Schinzenberger. In der Tasche seines Jacketts befand sich noch die Sprayflasche, und nach dem Entzünden kam in den Sinn, dass er etwas auf den Container sprayen könnte: «Geschieht dir Recht, du Schweinehund!»

Er fand das eine ausgezeichnete spontane Idee: Irgendein Feind, ein Künstlerkonkurrent oder ein Neider hatte ihm sein ganzes Lebenswerk – oder wenigstens einen Grossteil davon – zerstört. Schinzenberger spürte zwar selbst einen Schmerz, wie er den qualmenden und stinkenden Container betrachtete, aber er war bereits der unbeirrbaren Überzeugung, dass ihm die bevorstehende himmlische Ruhe mehr Wert sein würde, und wie man ihn auf der Welt einschätzte, war ihm endgültig egal geworden.

Natürlich hoffte er nun, dass seine Bemühungen genügen würden, um ihn nach einer Aufwallung der Medien in Vergessenheit geraten zu lassen. Doch er hatte sich getäuscht. Es reichte nicht. Die Mutmassungen zogen sich in die Länge und Schinzenberger musste nachdoppeln. Und seinen Ruf endgültig ruinieren. Er musste sich zur Unperson machen.

Und das gelang ihm endlich auch. Er begann, anonyme Briefe zu schreiben, an die Museen, an die Sammler, an die Medien, Bekennerbriefe des Brandstifters, der er ja auch tatsächlich war. Er warf dem verstorbenen Schinzenberger verheimlichte Schlechtigkeiten vor, Fiesheiten gegenüber Malerkollegen und vor allem -kolleginnen, unsaubere Geschäfte, Ausnützen von öffentlichen Geldern, überrissene Salarierungen bei Museumsausstellungen, Gier bei Künstlerfondsbeiträgen, und auch wenn er das alles nicht beweisen konnte, so rechnete er doch damit, dass einiges veröffentlicht und wiederum einiges davon an ihm – post mortem – hängenbleiben würde.

Schinzenberger demontierte sein Andenken – mutwillig. Er wusste wofür. Für seine himmlische Ruhe. Und um dem Ganzen einen definitiven, unumkehrbaren Schlusspunkt zu setzen, so drohte er – wiederum anonym – mit Enthüllungen im erotisch-sexuellen Bereich, munkelte von perversen Eskapaden, und wenn nun längst nicht mehr alles publiziert wurde, so reichte es, um die restlichen noch in der Öffentlichkeit platzierten Werke schleunigst in den hintersten Kellern verschwinden zu lassen. Schinzenberger war zur Unperson geworden. Ein Gefallener, mit dem niemand je etwas zu tun gehabt haben wollte. Nichts. Schinzenberger hatte es nie gegeben, weder ihn noch sein Werk.

Dann hob er den Kopf und bat die Himmel um gnädige Wiederaufnahme, die ihm auch gewährt wurde. Der Verwalter begrüsste ihn, und konnte sich eines Lächelns nicht verwehren. «Du hast die Lehre hoffentlich begriffen», sprach er. «Der Himmel ist nicht die Fortsetzung des Lebens auf der Erde, sondern sein Gegenteil, und himmlische Existenz heisst, alles Irdische in seine Bedeutungslosigkeit zu stürzen.»

Schinzenberger nickte dankbar und wandte sich seinem frei gebliebenen Platz zu …