Sie trug einen schwarzen, büromässigen …

Sie trug einen schwarzen büromässigen Anzug, Stiefelchen mit festen, hohen Absätzen; sie war auch büromässig schlank, hatte Kopfhörer über ihr blondes Haar und ihre Ohren geklemmt und einen Laptop auf den Knien platziert. Arbeit. Büro – in der Eisenbahn. Und: Sie war am Telefon. Sprach dabei laut und vernehmlich. So laut, dass die Nachbarschaft gezwungen war, Zeugen des halben Dialogs zu werden – die andere Hälfte verschluckten die Kopfhörer.

Die alltäglichste Szene heutzutage, doch habe ich ihre Bedeutung immer noch nicht verstanden, denn wozu werden für solche Mono-Dialoge Zeugen benötigt? Ich weiss. Man wird mir entgegenhalten, dass dieses Mithören durch Nachbarn eine vernachlässigbare Kollaterale sei, bedingt durch optimales Nutzen der Zeit, hier also der Reisezeit, für allerlei Verhandlungen.

Und genau darum schien es bei dem längeren Gespräch gegangen zu sein: um Verhandlungen. Unklar blieb dabei für die Zeugen, und das war das Irritierende, ob es um private oder geschäftliche Verhandlungen ging. Um die Vereinbarung eines Treffens, um die gegenseitige Annäherung – doch eines Treffens wozu? Für Geschäfte? Für eine Anstellung? Einer Annäherung wofür? Für ein gemeinsames Projekt? Ein Frau-Mann-Projekt? Jedenfalls war die junge Frau zielstrebig bemüht; sie sprach mit deutlichem Charme in der Stimme und genau dieser Charme war undefiniert – ging’s um ein Ding oder um den Mann, den Mann als Mann, als männliches Subjekt.

Der Mithörer konnte nicht anders, als sich in dieses Subjekt auf der anderen, virtuellen Seite zu versetzen. War wenigstens diesem die Sachlage klar? Oder genau so unklar? Versuchte er das herauszufinden? Ob er geschäftliches oder männliches Subjekt war? Spürte er, dass er umworben wurde? Und wusste er, zu welchem Zwecke? War ihm klar, dass Mithörer am Gespräch – wenigstens passiv, leidend, mitleidend – teilnahmen?

Nicht unerhebliche Fragen, denn sie könnten den Lauf der Dinge beeinflussen. Mithörer dabei zu haben mochte die Eitelkeit der Telefonierenden reizen, das Bewusstsein der Macht öffentlich zu machen, einen Mann weit in der Ferne auf die richtigen Wege zu bringen – oder im Gegenteil Scham und Schande auslösen, wenn zum Beispiel der unbekannte Umworbene unerwartet das Gespräch unterbrechen würde.

Der schreibende Mithörer blieb jedoch am Geschäft-versus-privat-Dilemma hängen; er wand sich geistig unter dieser Unentschiedenheit, und wenn er das Wort «bezirzen» für diese telefonische Bemühung unangebracht hielt, so kam ihm doch jene antike Göttin in den Sinn, Kirke, die auf ihrer Mittelmeerinsel in einem üppigen Park hauste und mit ihren Speisen und Tränken alle von den Stürmen und Wellen ans Ufer gespülten Männer verzauberte und zähmte, um ihr Zirzenparadies damit zu bevölkern.

Höchst erotisch wurde sie gemalt, jene Kirke, vor allem in neuerer, romantischer Zeit, doch der alte Homer gab ihr deutlich nüchternere Züge: Bei ihm verfolgte sie geschäftig ihre Zwecke, und ihre Verführungskünste waren nicht lustergeben, sondern absichtsvoll und erfolgsorientiert.

Der immer noch gezwungenermassen Mithörende erwog bereits, unauffällig das Seinige zu packen und andere, weniger gefährliche Lagerplätze zu suchen, doch seine schwelende Furcht erwies sich als unbegründet: Bereits bei der nächsten Station packte die Zauberin all ihre Utensilien, verstaute sie in einer grossen Tasche und stolzierte mit lautem Pochen ihrer Stiefel und hochgerecktem Kopf am erschauernden und sich duckenden Nachbarn vorbei zur Ausgangstür.

Gerettet!