… Es war Samanthas Anlass. Eine Anzahl Frauen war eingeladen, ihre Freundinnen oder jedenfalls die Frauen, mit denen sie am meisten zu tun hatte. Es war ja in Mode gekommen, dass Frauen Frauen einladen, wenn sie den letzten Tag feiern wollen, den letzten vor der Heirat, vor der Ehe. Die schwindende Ungebundenheit war zu feiern, so wie das früher die Männer taten, von denen aber in letzter Zeit nichts Derartiges mehr zu sehen ist – nein, in neuerer Zeit feiern Frauen den Polterabend, den Tag vor der dem Verlust jener Freiheit – obgleich …

Eigentlich war das alles nicht so ernst gemeint, das mit dem Freiheitsabschiedsfest, sondern es war vielmehr eine prächtige Gelegenheit, gehörig über die Stränge zu schlagen und sich auszutoben, durch die Stadt zu ziehen, viel zu trinken, sich ungehörig zu benehmen, so richtig vulgär, mit schrecklichen Klamotten, die man sonst nie anziehen würde – das jedenfalls war der Plan.

Die Frauen-Freundinnen hatten sich ein T-Shirt bedrucken lassen mit der Aufschrift: no man, no cry! Sie fanden das besonders lustig, obwohl niemand so genau wusste, was darunter in diesem Zusammenhang zu verstehen sei. Aber das war auch nicht wichtig, und Samantha äusserte den Wunsch, kurzfristig – ziemlich kurzfristig, aber das war ihr Recht –, nicht in der Stadt zu feiern und sich hier ungezogen zu benehmen, sondern wegzufahren, nach Bern oder Basel; man konnte sich da noch freier fühlen und frecher benehmen und brauchte nicht mit bekannten Gesichtern zu rechnen.

Samantha selbst hatte sich karierte Hosen besorgt, im Second-Hand-Shop, der immer so schreckliche Kleider im Schaufenster hatte, abscheulich geschmacklos, und Samantha hasste kariertes Zeug. Also passten sie bestens zum Anlass, dazu ein Shirt mit Wellenmuster, das sie irgendwo im Kasten fand und nie getragen hatte. Ein Hütchen hatten sie ihr aufgesetzt, die Frauen, mit einem Schleierchen, so richtig kitschig. Samantha musste lachen, sie fand es auch kitschig, derart kitschig, dass sie zögerte, es aufzusetzen, aber Feier war Feier, und sie wollten alles richtig machen, so richtig richtig; richtig eine Welle reissen und herumpöbeln, aber das Hütchen war wirklich schlimm und Samantha zögerte, konnte aber nicht mehr anders, die Sache nahm ihren Lauf, und man hatte sich schon im Speisewagen nach Bern einen gegönnt, einen Apérol, und der Kellner hatte ihn stärker als gewohnt gemischt; die Frauen wollten wirklich einen Knaller erleben.

In Bern sollte es durch die Altstadt zum Bärengraben gehen, aber Birgit liess sich schon beim Bahnhof von ein paar Männern ablenken, Birgit, die schon seit langem keinen Freund mehr hatte und allzu scheu war, nun aber aufdrehte und ziemlich aufgedonnert daherkam, mit sehr knappen, kurzen Hosen, in denen sie allerdings fror, aber das liess sie sich nicht anmerken, und die zur Bluse mit dem Aufdruck sehr sexy wirkten, Samantha musste es zugeben, ja sie war ein wenig eifersüchtig, sie war immer ein wenig eifersüchtig auf Birgit, obwohl sie ja eigentlich keinen Anlass hatte, denn Birgit war Single, und Samantha hatte seit langem einen Freund, seit längster Zeit, seit dem Studium, und das war schon einige Zeit seither, sie hatten es vor kurzem ausgerechnet, wohnten schon lange miteinander, hatten sich auch aneinander gewöhnt und dann beschlossen zu heiraten, auch wenn Samantha noch nicht schwanger war. Eigentlich wollten sie zuwarten, bis zu einer Schwangerschaft, aber das zog sich dahin, und dann fand alles rundherum, es wäre nun Zeit, und Samantha fand das auch. Und mit Roger war das eine sichere Sache, das mit dem Heiraten und dem Kindern haben, und vielleicht würden sie ein Häuschen übernehmen, eines der Häuschen, die draussen im Hermannsbühl gebaut wurden – falls eine Bank Hypotheken locker machen würde.

Sie waren immer noch in der Berner Altstadt, und weit und breit war kein Bärengraben in Sicht, denn Sandra hatte den Zug abgelenkt, und man war in ein vegetarisches Lokal geraten. Geraten war nicht der richtige Ausdruck, sondern Sandra hatte das clevermässig arrangiert, Sandra mit ihrem Rohkostfimmel. Da gab’s auch nichts Alkoholisches, aber das war Samantha recht, es war ihr bereits leicht übel; Rosalie sah ebenfalls nicht gut aus, eher grün im Gesicht trotz der gepflegten Schminke, nahezu grün.

Sandra spendierte dafür den Abstecher, und Milena kam aus dem Lachen nicht heraus, als sie alle Grünzeug essen mussten, frisch zubereitet, immerhin, und das meiste exotisch. Samantha kannte sich da nicht aus: Papaya war dabei und Amaranth und eine Kressesauce und Maniok. Dabei war für später ein Nachtessen vorgesehen, mit reservierten Plätzen, man wollte es gediegen haben, und Silvia wusste den Weg; sie kannte Bern wie ihre Handtasche.

Erst aber war wieder etwas Schärferes angesagt, schräg gegenüber vom Veganer: Vini e Liquori, die Kellner waren Italiener oder eher Albaner oder Rumänen; sie sprachen untereinander unverständlich, aber Samantha wollte auch nichts verstehen, denn ihre Laune war plötzlich in den Boden versunken, Samantha wusste nicht warum, dabei waren all die anderen so fröhlich, und man war auf einer Weibertour, wie es sich gehört.

Die Truppe zog weiter, und man gönnte sich nochmals einen Drink, dabei war Daniela schon nicht mehr nur angeheitert, sondern ziemlich blau; alle wussten, dass Daniela nicht viel verträgt und sich nicht unter Kontrolle hat, dabei ist sie scharf auf diese Drinks, die süss und süffig sind, Russisches, Smirnov oder Puschkin oder irgend so etwas; kein Mensch trinkt das ausser Daniela und ein paar Tussis. Und Blondinen in der Fernsehwerbung. Man war noch immer nicht beim Bärengraben angelangt, sondern kümmerte sich nun um Daniela, die am Gehsteigrand sass und kaum aufstehen konnte, und es war eher peinlich, aber das gehörte dazu, es musste irgendwie peinlich sein, für die Leute rundherum, für die Berner, das war ja gerade der Sport, peinlich aufzutreten, in Bern, und allen zu zeigen, dass das einem egal war, scheissegal übrigens, peinlich zu sein, angetrunken und peinlich, und den Smirnov oder was auch immer irgendwo in einem Store zu kaufen und auf der Strasse zu trinken und die Flaschen einfach stehen zu lassen, einfach, und die alten Tanten zu ärgern, die Berner Tanten, die vermutlich noch ordentlicher sind als diejenigen daheim.

Doch bei Samantha hatte es gekippt, innerlich, gekippt, den Schalter gedreht. Es war ihr peinlich, ihr ganz persönlich, wirklich peinlich; die ganze Angelegenheit war ihr peinlich, und sie wusste nicht mehr, was das alles bedeuten sollte, dieser Polteranlass, und dabei war es noch nicht einmal Abend, und Samantha …

Noch nicht einmal Abend und sie, Samantha, sollte die fröhlichste unter den Frauen sein, denn sie war es ja, die heiraten würde, nicht morgen, sondern übermorgen, und vielleicht würde sie die traurigste von allen sein, denn schliesslich ging es um einen Verlust, den Verlust der Freiheit und so weiter …

Samantha konnte nicht mehr genau denken, klar denken, und Samantha geriet in Not, denn womöglich – so kam es ihr in den Sinn – womöglich war genau dies die Idee des Ganzen, die verborgene Absicht dahinter, hinter diesem läppischen Poltermittag, Polternachmittag, und dazu der Polterabend, der noch lang sein würde, die heimlich Absicht, alles zu vernebeln, damit man in etwas geraten würde, in eine Ehe, nein, das war nicht einmal das Schlimmste, nicht nur in eine Ehe, sondern in eine Topf, der aus Ehe, der aus Frauenanlässen, aus geselligen Anlässen und weiss ich was bestehen würde, aus Frauen-Kinder-Anlässen, und Samantha war sich nicht mehr sicher, ob sie das alles wollte, ob sie überhaupt heiraten wollte, denn mit der Heirat war sie ja nicht nur gebunden, fix gebunden, sondern sogar ausgeliefert, und zwar den Frauen ausgeliefert, die alle so leben wollten, wie all die Freundinnen her, mit Anlässen wie diesem, und in einer Ehe gebunden, verbunden mit – mit Roger, den sie zwar liebte. Liebte? Wirklich liebte? Ja, natürlich, liebte, jedenfalls gern hatte, direkt verliebt war sie zwar nicht mehr, aber das waren sie alle nicht mehr, alle Frauen, die sie kannte und mit denen sie sich ausgetauscht hatte, und die bereits eine längere Partnerschaft hatten, da kann man ja nicht mehr von verliebt sprechen, logisch, das war etwas anderes – doch was anderes war es?

Aber Samantha wollte nicht herumstudieren und sich ablenken lassen, denn jetzt war ja der Anlass wichtig, und das alles waren nur dumme Gedanken, ihrerseits peinlich, und man bezahlte bereits den nächsten Abstecher; ein paar Männer standen herum, die nichts Besseres zu tun hatten, als sie, die Polterfrauen einzuladen, ihnen eine Runde zu spendieren, und dabei machten sie Sprüche, die witzig sein sollten, nicht einmal schlimme, aber Samantha wollte keine Witzchen hören; die Sprüche bezogen sich auf die Flyers, die sie dabei hatten und die humorvoll-kitschig-anzüglich wirken sollten, die Samantha aber nun ebenfalls peinlich waren und zudem die Männer zu ihren Bemerkungen berechtigte.

Dabei sollte sie ganz anderes empfinden – Samantha war sich dessen bewusst. Endlich war man beim Bärengraben angelangt, endlich, obwohl auch das eine idiotische Idee war, Samantha wusste nicht mehr, wer sie hatte, das war auch egal, man war beim Bärengraben, man hielt Samantha für besonders tierliebend, und die Frauen waren laut geworden, wenigstens einzelne, während die andern sich wohl erholen wollten, im Freien, aber da waren bereits viele Besucher, die alle Bären sehen wollten, was für ein Unsinn. Samantha hatte nichts mit Bären zu tun, und sie war keineswegs eine begeisterte Zoobesucherin, und ihr Roger hatte so gar nichts von einem Bären – wie kam sie dazu, Roger mit Bären zu vergleichen, kuschelig war er nicht und auch nicht massig wie ein Bär. Samantha schüttelte den Kopf, und dann fragte Melinde, ob es ihr nicht gut gehe, sie sei so ruhig geworden, und man sei doch unterwegs und alles laufe, wie es laufen müsse und bald gebe es etwas Rechtes zu essen. Samantha schwieg und zeigte sogar ein Lächeln, das Lächeln, das sie immer zeigte, wenn sie nicht zeigen wollte, wie es ihr wirklich …

Und dann … Dann wollten die Frauen weiter; bei den Bären war nicht viel los, und man hatte sich das viel abenteuerlicher oder wenigstens reizvoller vorgestellt; aber die Bären lagen zumeist herum; sie waren wohl schon gefüttert worden, und was sollten sie viel anderes tun als auf die nächste und übernächste Fütterung warten. Melinde hatte das mit den Bären organisiert; ihr Verlobter hing wohl auch etwas viel herum, dachte Samantha und fand sich fies, und die schlechte Laune nistete sich richtig ein, doch die Gesellschaft wollte weiter; Samantha nahm sich zusammen; sie wollte niemandem den Tag verderben. Sie verstand nicht, warum man auf die stupide Idee gekommen war, nochmals einen Tierpark zu besuchen; in Bern gibt es zwei davon; warum denn um Himmels Willen, sie war doch nicht beim Tierschutz. Aber arrangiert war arrangiert und so weit sei das gar nicht bis dahin, und dort würde auch das Nachtessen stattfinden, man habe eine wunderbare Locanda ausgekundschaftet, in der Wohin-in-den-Ausgang-App mit vielen Likes und mehreren Sternchen erwähnt.

Man konnte der Aare entlangwandern; man wollte sich ohnehin etwas lösen von der Stadt, und die Bären seien wirklich langweilig gewesen, fanden alle Frauen. Eine Enttäuschung. Der Aare entlang, aber die Frauen hatten bereits schwere Beine, und Melinde, die den Trek organisiert hatte, zauberte ein grosses Taxi her, einen überlangen Amerikanerschlitten, eine Überraschung, längst schon vorbestellt, und man fuhr damit die Strecke zum Tierpark; der Chauffeur drehte eine Extrarunde, sanft und langsam, damit es den Damen nicht etwa übel wurde.

Und bald waren sie im Tierpark und dann geschah es, da, genau im Park. Samantha hatte irgendwie aufgegeben, sie wusste nicht was, aber sie hatte innerlich aufgegeben, irgendwie ihren Polterabend abgeschrieben, sie erwartete nichts mehr von ihm, dabei würde er erst kommen, und die Frauen wollten noch etwas erleben und die Stimmung behalten, und man war bei den Flamingos angelangt. Diese staksten herum, unmotiviert, standen herum, gelangweilt; sie waren wenigstens farbig, und Samantha versuchte sich an den Farben zu halten, am Rot, an der Farbe der Leidenschaft und Verheissung.

Aber Samantha war gar nicht leidenschaftlich zumute, im Gegenteil. Leidenschaft und Abenteuer waren weit weg, unendlich weit weg; der Polternachmittagundabend war keineswegs leidenschaftlich, das wollte er auch nicht sein, nahm Samantha jedenfalls an, auch die Frauen standen herum und fotografierten dauernd mit ihren Handys, setzten sich in Pose, fotografierten sich selbst in allen Stellungen, zusammen mit den Flamingos, und die Fotos würden sie posten und herumschicken, und Samantha fürchtete bereits die Aufnahmen, sie wollte sie auf keinen Fall sehen, auf keinen Fall, denn die Frauen, Daniela, Melinde, Ophelia waren schnapsfröhlich, aber nicht leidenschaftlich, und wenn das so weiterging, dann würde die Hochzeit, oder die Ehe …

Und dann geschah es. Für Samantha. Ein Verhängnis? Vielleicht. Das Verderben? Oder die Rettung? Samantha wusste es nicht, und würde es auch später nicht wissen. Es war ein Mädchen, das in der Nähe stand und seinen Blick von den Flamingos abwendete und Samantha in die Augen sah. Ein Mädchen? Ja, ein Mädchen, an der Grenze zu einer jungen Frau, eben kein Mädchen mehr, und doch noch ein Mädchen, ein Fräulein, bald ein Fräulein, Samantha kam das altmodische Wort in den Sinn, ein Unwort, abwertend, aber es war ein Fräulein, und es sah Samantha in die Augen, neugierig, prüfend. Es war ein Mädchen, und die Flamingos interessierten es nicht mehr, sondern nur die Frauen um Samantha und Samantha selbst; es kam Samantha so vor, also ob sie selbst dieses Mädchen wäre, denn genauso hatte sie früher, als Kind, als Fräulein, um sich geblickt. Prüfend. Sie prüfte – damals – die Welt, in die sie hineinwuchs, kritisch, denn sie ahnte, dass diese Welt mit Vorsicht anzugehen war, dass Fallstricke herumlagen, offene und verborgene.

Samantha meinte, sich selbst in die Augen zu blicken, in diesem Tiergehege. Das Gehege machte das Ganze noch schlimmer, denn Samantha kam sich selbst in einem Gehege vor, eingepfercht in einer Anzahl Frauen, eingepfercht in eine Leben, das nun vorgespurt war, das nun ablaufen würde, nach Plan, unerbittlich, und damals, damals hatte sie sich geschworen, dass ihr Leben nie einen Ablauf nehmen würde, dass es geheimnisvoll bleiben würde, und sie dachte sich – damals – dass nicht die Gefahren gefährlich sein würden, sondern die voraussehbaren Abläufe.

Samantha wandte sich vom Mädchen ab und lehnte sich gegen das Gitter des Geheges. Der Blick reichte. Sie trug ihn in sich. Sie hatte ihn immer in sich getragen, auch wenn er in Vergessenheit geraten war. Und genau jetzt, in diesem Moment, bohrte er sich wieder in ihren Kopf. Ihr eigener Blick. Prüfend.

Samantha liess sich nichts anmerken, auf keinen Fall. Nochmals blickte sie zum Mädchen zurück. Immer noch war es am Beobachten. Die junge Samantha beobachtete die nicht mehr so junge Samantha. Fragend war er, nicht nur prüfend. Er fragte nach dem nächsten Schritt, den Samantha nun unternehmen würde. Und diese wusste, dass sie – dem Blick folgen würde. Dem Blick und dem anderen Weg. Sie würde mit den Frauen zum Essen in der Locanda gehen; sie würde sich nichts anmerken lassen. Sie wollte keine Diskussionen. Und dann würde sie sich zurückziehen, bald einmal, würde vorschützen, zu viel gegessen oder getrunken zu haben. Und dann würde sie verschwinden. Mit dem Gepäck, das sie sich wie die anderen hatte nach Bern liefern lassen. Mehr brauchte sie nicht. Verschwinden. Irgendwohin. Und neu anfangen. Mit nichts. Mit gar nichts. Ein neues Leben. Das unbestimmt war. Ohne Polterabend und Hochzeit und Häuschen und Grill. Unbestimmt. Aber mit festem Blick. …