… Ich sass in der Eisenbahn, die mich Provinzbewohner in die Hauptstadt an eine Fachvereinspräsidententagung bringen sollte. Die morgendliche Stosszeit war vorüber, und ich hatte es mir einigermassen bequem machen können, ja ich hatte sogar genügend Platz, um meine Unterlagen auf dem kleinen Tischchen im Durchgang zu den oberstöckigen Abteilen zu platzieren. Noch waren die übrigen Sitze neben und jenseits des Tischchens leer, und ich konnte damit rechnen, in Ruhe nochmals die Traktandenliste studieren, die wichtigen Punkte durchsehen und meine Eingabe zu einem der heiklen Themen memorieren zu können. Mein beflissenes Kontrollieren der Uhr versicherte mir, dass sich der Zug fahrplanmässig in Bewegung setzte – ich hatte also allen meinen Pflichten Genüge getan. In diesem Augenblick näherte sich ein junger Mann mit spiegelnder, dunkler Sonnenbrille, einer abenteuerlichen Kopfbedeckung, einer Art Turban, türkisfarben, und in Leinenkleidung, nicht unelegant; ihm folgte eine ebenfalls noch junge Frau, schlank und etwas bleich im Gesicht.

Freundlich und artig fragte der Mann, ob es mich störe, wenn sie sich zu mir ans Tischchen setzten. Natürlich verneinte ich. Die beiden waren alles andere als aufdringlich; der junge Mann platzierte sich mir schräg gegenüber, und die junge Dame – wie sollte ich sie sonst bezeichnen – setzte sich mit ihren grauen Strümpfen im Schneidersitz neben mich. Gemütlich casual sollte unserer Reise sein, und die Dame deponierte auch ihre persönlichen Utensilien wie Halstuch, Spange, Taschenbuch und Etui rund um sich auf unsere Sitzbank.

Eine Vertraulichkeit umgab die beiden, und zog mich sogleich in ihren Bann. Ich ahnte bereits, dass mir meine Pflichten entgleiten würden.

Sie war hübsch, die Dame, und hatte schöne Beine, die sie mir nicht ungern zeigte, was aber lediglich eine Vermutung ist. Denn sie könnte auch davon ausgegangen sein, dass mich, beschäftigt mit meinen Unterlagen, solches nicht interessieren würde. Oder, wahrscheinlicher, gehörte sie zur Mehrheit der Frauen heute, die sich über solche Alltäglichkeiten keine Gedanken mehr machen, und wollte es sich neben mir einfach bequem machen. Ihre Blässe schien sich im Verlaufe der Stunde bis zu meinem Ziel zu verstärken; dies war nicht zuletzt Folge des Kontrastes, den ihr Begleiter bot. Er war der Star am Tischchen. Er kannte sich aus. Sein Gebiet waren die menschlichen Erlebnisprozesse, waren die grenzenlosen Regionen der Seele und des Geistes, inklusive die prächtige, buntscheckige Welt der horizonterweiternden Drogen; sein Erfahrungsgebiet war aber auch die strahlende Sphäre von Kunst und Musik, und der junge Kenner trieb damit dem unfreiwilligen Zuhörer und Schreiber dieser Zeilen Gefühle des Neids in die Brust. Zwischendurch erkundigte er sich bei seiner attraktiven Adeptin nach ihren Erlebnissen in dieser und jener Hinsicht, nach meditativen Erweiterungen und Erkenntnissen, nach Karmaempfindungen, nach allerhand tiefgeistigen Vorgängen, die er ja alle schon durchgespielt hatte, aber gerne auch anderen Menschen nahe zu bringen gewillt war, insbesondere seiner Schönen. Die liebenswürdige Dame neben mir am Tischchen zeigte sich fasziniert von seiner Vertrautheit mit all diesen Vorgängen des Bewusstseins und war sichtlich stolz auf ihren kundigen Begleiter; nur ab und zu meldete sich auf ihrer zarten Stirn ein verhaltenes Runzeln, wohl der Anflug eines Zweifels, wenn die Rede auf eine allzu spekulative Spiritualebene glitt, was den bewusstseinserfahrenen Mann, der wie ein geistiger Odysseus in jungen Jahren schon durch alle Register der seelischen Klaviatur gesegelt sein musste, nicht davon abhielt, weiterhin aus seinem grenzenlosen Fundus zu schöpfen.

Nun fragt sich, was mich das alles angeht und warum ich mich nicht brav auf meine Traktandenliste konzentrierte eingedenk meiner Mission in die Hauptstadt, ja es fragt sich, ob ich überhaupt das Recht gehabt hatte, diesen Ausführungen eines Wissenden an seine Schöne mit meinen Ohren zu folgen, und jetzt das Recht habe, davon zu berichten. Die kurze Antwort: Das wäre schlicht unmöglich gewesen; ich hätte wie jener erwähnte Seefahrer meine Ohren mit Wachs verstopfen müssen. Der Dialog der beiden – ja, die Schöne gab ab und zu Antwort oder streute eine Bemerkung ein – war in ihrer Fülle eine kleine, aber aufmerksamkeitsabsorbierende Szene, der ich mich nicht entziehen konnte, und statt dass ich meine Sitzungsnotizen komplettierte, verführte mich die Interaktion, die sich sozusagen über meine Nasenspitze vollzog, zur stummen Teilnahme, ja ich ertappte mich, dass ich mit dem Bleistift in meiner Hand gedankenlos einzelne Sequenzen mitschrieb, die ich aber später nicht mehr in ein verstehbares Deutsch zu transkribieren vermochte, denn zu oft verlor ich den Faden angesichts der tiefgründigen Thematik. Ich erwog zwischendurch die Frage, ob meinem Gemüte kostenfrei ein längst einstudiertes, perfekt vorgetragenes Bühnenstück sozusagen privatim, wenn auch auf öffentlichem Verkehrsgrund, vorgeführt werde, denn gemütlich war die ganze Szene trotz der vertrackten Bewusstseinsprozessfragen, die bis in tiefe lebensphilosophische Problemstellungen vordrangen.

Gemütlich war es auch, weil mir die beiden höchst sympathisch waren und sie nicht wie ich einer nüchternen standespolitischen Sitzung, sondern einem Musikfestival zustrebten, worum ich sie heimlich beneidete. Beim Verlassen des Zuges kamen wir auf dem Bahnsteig sogar noch ins Gespräch, wir drei, denn als der weitbewusste Mann – er hatte längst seine dunkle Brille abgelegt – sich nach meinen Notizen und Unterlagen erkundigte, mich nach meiner Profession fragte und sich daran höchst interessiert zeigte, da hätte er mich beinahe für eine Diskussion um die Bewusstseinserweiterung von psychedelischen Drogen gewonnen. Er fragte nicht nur nach meinen eigenen Erfahrungen, sondern auch nach meinem Urteil über die Erfahrungen Aldous Huxleys, den er bereits in der Bahn zitiert hatte und offensichtlich sehr verehrte. Doch meine Pflichten – warum in Dreiteufelsnamen bin ich nicht mit den beiden weitergereist, zum Festival und zur Musik? – verlangten nach einem Abschied. Die Konferenz ein paar Stockwerke höher wollte eben beginnen.

Dabei hat mich der junge Mann an einer wunden Stelle getroffen. An der Huxley-Psychedelic-Stelle.