… Die christliche Kirche hat es vorgemacht. Sie war nicht nur das Tor zum Himmel, zum ewigen Leben, sondern sie behauptete auch von sich, die ewige Wahrheit zu kennen und die Welt zu deuten. Nicht Galilei war das Problem, sondern die Macht der Kirche, und nicht die Macht war das Problem, sondern all die Menschen, die sich mit dieser Macht begnügten. Sie liebten diese Macht. Denn sie war bequem. Man brauchte nicht zu denken, denn der Heilige Stuhl dachte.

Längst Geschichte, sagst du mir. Richtig. Für viele Menschen allerdings noch keineswegs. Von denen schreibe ich jedoch nicht. Ich schreibe über diejenigen, die sich neue Kirchen eingerichtet haben. Bequeme Kirchen, nicht mehr mit harten Bänken, sondern mit den weichen Wohnstubensofas. Das sitzen sie und haben Recht. Weil sie in die richtige Kirche gehen. Die richtige Kirche ist die Kulturkirche. Sie ist ein riesiger unförmiger Bau, dessen Umfang nicht abzusehen ist. Sie ist eine Konstruktion von all den Wahrheiten und Wichtigkeiten, die uns stets vorgesetzt werden, und zwar so laut, dass es schwer ist, nicht in den Chor der Gläubigen einzustimmen. Wer sind die Gläubigen? Alle diejenigen, die das Kulturelle an sich als gut und wertvoll bezeichnen.

Das Kulturelle. Das Kulturgut. Das schützens- und pflegenswert ist. Das einen Wert an sich darstellt – das nicht für etwas gut ist. Sondern bereits an sich gut ist. Das gibt es doch, wendest du ein. All die Schätze, die wir verehren. Die Schätze der Musik, der Kunst, der Literatur.

Und ich sage dir, dass ich nicht daran glaube. An den Wert an sich all dieser Dinge. Die Werke werden untergehen, deren Erinnerungen werden sich verwischen. Weil sie ihre Bedeutung verloren haben, denn die Menschen richten sich nicht nach den Bedeutungen, sondern diese finden sich durch die Menschen. Und bedeutungsvoll werden die Worte und Klänge sein, die in der zukünftigen Welt einen Sinn ergeben. Hast du die Spolien in Ravenna oder Aachen bemerkt? Die Reste von Säulen und die Bruchstücke von Kapitellen, die in die Wände gepflastert wurden? Ihrer Bedeutung entleert sind sie wieder einfache Steine geworden.

Aber nicht davon will ich schreiben. Sondern dich warnen. Vor dem Glauben an die grossartigen Werke. Achte sie. Ehre sie. Aber glaube ihnen nicht. Vertraue ihnen nicht. Denn dein Glauben macht dich blind. Blind für die Bedeutungen der Welt, die auf dich einströmt. Denn die Welt ist eine neue, noch unverstandene, und wenn du dich an die alten Bedeutungen hältst, verstehst du das Neue nicht. Das Neue ist nicht das, was als Neues gepriesen wird. Das Neue ist das, was schwer zu verstehen ist. Weil es der Deutung harrt. Weil seine Bedeutung noch keine Worte gefunden hat.

Suche den Sinn, erkunde die Bedeutung dessen, was auf dich zukommt. Und halte dich an deinen Verstand. An dein Gefühl, an deinen Schmerz und deine Freude. Lerne das dir Fremde kennen. Es liegt vor deinen Augen und flüstert dir zu.

Und halte dich an den Verstand derjenigen, die die Welt so erkunden wie du. Sie sind, als Forschende, schwer zu orten, denn sie horchen und ihr Auge schweift genau wie ihr Geist. So sind sie, als Lauschende, schweigsam. Sie sind in steter Bewegung, vermeintlich richtungslos, denn ihre Bewegung gehorcht ihrem Suchen, nicht dem trägen Glockenklang des längst Bekannten …