… Sie waren kulturbewusste Menschen, die beiden, nein, man müsste schreiben, dass sie regelrecht mit der Kultur verwachsen waren. Andere, weniger respektvolle Mitmenschen würden eher sagen, sie war ihr Hobby, die Kultur, ihr einziges Hobby. und zu diesem gehörte alles, was kultiviert und zu kultivieren war: die schöne Kunst, die schöne Literatur, die schöne Musik und natürlich auch gutes Essen, guter Wein und schöne Reisen. Würdevoller ausgedrückt: Die beiden hatten ihr Leben der Kultur gewidmet. Ihr Leben ausserhalb der Arbeit, so müsste man allerdings präzisieren, denn beide waren sie auch arbeitsam und zuverlässig, und da ihre Berufe ein sowohl regelmässiges als auch ansehnliches Einkommen garantierte, war ihre Kulturteilnahme auf entsprechend hohem Niveau. Wenn sie ausgingen, dinierten sie in gepflegten Lokalitäten, die in den einschlägigen Bewertungsverzeichnissen hochrangig gelistet waren, so hochrangig, dass sie auf der Speisekarte beliebig wählen konnten, denn alles Aufgeführte präsentierte sich in vollem Glanze und schmeckte auserlesen.

Sie besuchten häufig Konzerte, doch nicht irgendwelche, denn diese schiessen ja heutzutage überall ins Kraut, sondern nur die allerbesten, ausgezeichneten, so dass die beiden nicht zu fürchten brauchten, sich Unterklassiges anhören zu müssen. Natürlich pflegten sie auch den Umgang mit Menschen der Kultur und erfreuten sich deren Resonanz.

Die beiden hatten seit Langem verschiedene Kunstzeitschriften abonniert, die ihnen die hochkarätigsten Galerien und Ausstellungen zum Besuche anboten, so dass sie auch da nur aus dem Auserlesensten wählen konnten. Darüber hinaus hatten sie einen Buchhändler gefunden, der sie nicht nur über die gelobten und mit Preisen versehenen Bücher informierte, sondern auch dafür besorgt war, dass stets eine entsprechende Auswahl im Bereiche ihres Geschmacks vorrätig war, denn trotz der einschlägigen Empfehlungen liess sich das Paar das Vergnügen nicht nehmen, nochmals selbst zwischen den Büchern und zwischen den Wörtern zu stöbern und eine letztliche Auswahl zu treffen, denn ihr eigenes Urteil war das endgültige Mass der Qualität eines Kunstwerks überhaupt.

Das war auch das Ziel, das sie anstrebten, ja man könnte sagen, es war ihr Lebensziel schlechthin. Die absolute Spitze der Kultur zu erreichen. Die Spitze der Spitze, und diese Spitze bestand darin, untrüglich im eigenen Urteil zu werden, und somit die Spitze der Kultur nicht nur zu erreichen, sondern sie sozusagen selbst zu repräsentieren, somit selbst zum absoluten Träger der Kultiviertheit zu werden, sie in tiefstem und wahrstem Sinne zu sein.

Denn ihnen beiden war bewusst: Die Myriaden von Werken der Künste sind letztlich nichts anderes als Kandidaten im Wartesaal der Urteilsbefugten. Diese sind es, die sozusagen das jüngste und letzte Gericht bilden und untrüglich die Spreu vom Weizen scheiden, indem sie scharf und unerbittlich das Genie des Schöpfertums vom Dilettantenramsch trennen, ja besser: befreien. Hier in diesem Gericht wird gewogen und für gut befunden, was in den Himmel der Kunst Eintritt findet, und für schlecht befunden, was in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit und des Vergessens gehört.

Und unzweifelhaft waren unsere beiden Träger und Pfleger Teil dieser Kultur und somit auch Teil des höchsten und letzten Gremiums der Künste. Ihr Urteil war gewissermassen ein Dienst an der Menschheit, denn es ersparte den übrigen Erdenbewohnern die Mühsal des Suchens und Wählens – sie konnten sich leicht am Kanon der Urteilsfähigen orientieren. So war das Leben der beiden in einem tieferen Sinne ein Kampf, ein Streben nach dem ewig Kultivierten, nach dem was bleibt, wenn nichts mehr besteht.

Nun könnte ein Romantiker behaupten, die beiden suchten selbst die Unsterblichkeit zu gewinnen, in dem sie das Verschmelzen mit der unsterblichen Kultur vor Augen hatten. Aber so weit gingen sie nicht. Nein, sie verstanden ihr Streben, ja ihre Existenz durchaus als weltimmanent: Kultur war für sie Genuss und Urteil in einem, und dieser doppelte Genuss machte ihr irdisches Glück schlechthin vollkommen.

Selbstverständlich verfügten sie auch über eine stattliche Zahl von Freunden, und viele ihrer Freunde waren ebenso Freunde der Kultur, so dass man sich an kulturellen Anlässen traf und austauschen konnte, und beide waren davon überzeugt, bekannt für ihre treffsicheren Urteile zu sein. Und da die Kultur ja die Gesamtheit dessen umfasst, was die Menschen je geistig erstrebt haben, so hatten die beiden auch die Gewissheit, gleichsam die ganze Kultur überblicken und in ihrer relativen Bedeutung beurteilen zu können. Sie gehörten somit zu den wenigen ausgezeichneten Menschen, die auf den Gipfeln wohnten und da verkehrten, und die sich zwar gern mit anderen austauschten, sich aber eigentlich nichts mehr sagen zu lassen brauchten. Ihre Erkenntnis bezüglich des menschlichen Schöpfertums war allumfassend. Sie wussten alles – alles Bedeutsame zumindest.

Ich schreibe, dass ihr Glück vollkommen war, und bin beschämenderweise gezwungen, dies zu korrigieren. Ihr Glück war leider nur beinahe vollkommen, denn in dieser Welt existieren seit jeher Kräfte, ja Wesen, besser Unwesen, die das Glück der Menschen beschneiden.

Sie bewohnten ein schönes, gepflegtes Haus und erfreuten sich einer ebenso gepflegten Ruhe, bis – unklar wann das seinen Anfang nahm – einzelne unbestimmte, kaum vernehmliche Laute zu hören waren – vielleicht das sanfte Bewegen eines Fensters, das genau so gut von einem Windzug herrühren mochte, oder das Knarren aus einem Kasten. Oder das Aneinanderstossen zweier Gläser im Schrank in der Küche. Das Einrasten eines Türschlosses. Vielleicht aber war auch ein Gegenstand des Haushaltes von seinem angestammten Ort verrückt worden. Die Kaffeemaschine. Die Brille. Der Wäschekorb. Meist aber waren es alltägliche Geräusche, die zu vernehmen waren, nichts Besonderes, sondern ein Klopfen, Summen, Murmeln, Klingeln, ab und zu aber auch – und das war womöglich noch verwirrender – sanfte Kantilenen, wunderbare himmlische Klänge, Glocken- oder Orgelklingen, ja feine Gesänge von engelgleichen Stimmen.

All diese Erscheinungen waren zart, doch durchaus vernehmlich, aber keiner der beiden Kulturpartner war sich seiner Wahrnehmung ganz sicher und wollte jedenfalls nicht beim anderen in den Verdacht geraten, zu halluzinieren oder unter Gedächtnisverlust zu leiden, und blieb somit still und schwieg und beobachtete höchstens den anderen, ob auch er oder sie aufmerkte und damit anzeigte, etwas Unerklärliches wahrgenommen zu haben, doch nie bemerkten beide gleichzeitig etwas Ungewöhnliches. Und so blickten sie sich nie gleichzeitig an, und zwischen ihnen fiel auch nie ein Wort darüber.

Sie konnten sich nicht vorstellen, je vom Zweifel ergriffen zu werden. Jedenfalls dachten sie so, und so konnten sie auch nichts Zweifelhaftes austauschen, und diese kleinen Erlebnisse, diese Einbrüche in ihre geordnete und gepflegte Welt waren für jeden von ihnen höchst zweifelhaft. Zweifelhaft, weil sowohl er als auch sie an der eigenen Wahrnehmung zweifeln musste, an der Verlässlichkeit von Auge und Ohr, ja nicht nur das, denn es schien, als ob auch plötzlich irgend ein Geruch, süss und fruchtig, oder ekelerregend mit einem Luftzug – nur für einen kurzen Moment – an der Nase vorbeistreichen konnte. Oder es mochte ein sanftes Streicheln, ein Karessieren, ja ein heimlicher Kuss den einen oder die andere überraschen und erschrecken und heimsuchen – oder gar umschmeicheln?

Sie mussten also – jeder für sich – heimlich an der eigenen Wahrnehmung, an den ureigensten Sinnen zweifeln, die sie doch im Laufe ihrer Kulturerziehung derart geschult hatten, oder – noch schlimmer – er oder sie musste am eigenen Verstand, an der eigenen Geistesverfassung zweifeln, also am höchsten Vermögen, dem Kern des je eigenen Stolzes und Selbstverständnisses.

Dabei war die Erklärung für all diese Phänomene höchst einfach, und wenn die beiden darüber geredet hätten, wären sie rasch auf die einfache Lösung des Rätsels gekommen:

Es war ein Kobold, und wer meint, solche Kerlchen seien reine Phantasiewesen, soll sich Menschen erkundigen, denen Ähnliches wie unserem Paar widerfahren ist. Er machte sich nach langen Jahren nach und nach bemerkbar, obwohl er er vermutlich immer schon im Haus der beiden gewohnt hatte. Oft gehören solche Unruhestifter recht eigentlich zum Haus, oft auch werden sie von einem der Maurer oder Zimmerleute während des Baus im Erdreich oder unter den bereitgestellten Baugerätschaften gefunden und an einen geschützten Ort im Gebälk gesetzt. Meist hört man nicht viel von ihnen, manchmal allerdings mischen sie sich in die Existenz der Hausbewohner ein und verwirren nicht unerheblich den geordneten Lauf der Dinge. So wurde auch schon erwogen, die Unsitte zu verbieten, das heisst das Einschleppen von Kobolden in neue Bauten, aber die Zimmerleute bilden ein unberechenbares Volk, und ihr Tun und Lassen zu kontrollieren erweist sich als aussichtlos.

Ab und zu hört man sogar, dass sämtliche Häuser von Kobolden bewohnt sind, ja dass sie die Bebauungen im Grunde als die ihrigen betrachten und dass sie die Menschen nur als vorübergehende Mitbewohner betrachten, womit sie nicht Unrecht haben, denn Kobolde werden deutlich älter als Menschen, ja sie überleben mit ihrer asketischen Lebensweise oft sogar die Häuser, die sie bewohnen.

Manchmal allerdings kreuzen sich die Lebenswege von Kobold und Mensch, und zwar dann, wenn die ersteren in irgendeiner Weise von den letzteren herausgefordert werden. Kobolde sind nämlich, und das wurde bis jetzt viel zu wenig zur Kenntnis genommen, der menschlichen Sprache durchaus mächtig, auch wenn sie untereinander ein altertümlich klingendes Koboldisch sprechen, das nur für gewiefte menschliche Sprachforscher und auch nur in Ansätzen verständlich ist.

Kobolde sind sehr eigenwillige Wesen, und ihr Denken zeugt von einer grossen Oppositionslust, ja sie gelten bei manchen als notorische Störenfriede und Wortverdreher, so dass sie auch schon in die Nähe von Abgesandten des grössten Widersachers gestellt worden sind, was allerdings eine unberechtigte Beleidigung darstellt, denn sie sind im Gegenteil eigentliche Wahrheitsergründer, und ihre Kenntnisse beziehen sie nicht zuletzt aus all den Erfahrungen mit Menschen, die sie in ihrem langen Leben sammeln.

Der Kobold, von dem hier die Rede ist, hatte sogar schon mehrere Häuser überlebt; seine Erfahrungen waren also ohne Grenzen, und entsprechend war er überaus geschickt im Produzieren der erwähnten akustischen, visuellen, taktilen Erscheinungen und der sporadischen Gerüche.

Vielleicht war er doch etwas in die Jahre gekommen und nicht mehr so flink wie ehedem, oder, was wahrscheinlicher ist, es steckte eine geheime Absicht in ihm. Denn eines Tages orgelte er laut und dreist durchs Haus, bot abwechslungsweise himmlische Klänge und schrecklichstes Schrillen und Pfeifen, Rasseln und Quäken. Und als der Hausherr unauffällig zum Rechten sehen wollte, liess sich der Kobold mir nichts dir nichts – fangen. Er leistete nicht einmal Widerstand – obwohl er trotz kleiner, unscheinbarer Statur, immer noch höchst muskulös war. Erst zappelte er zwar, gab dann aber doch Ruhe. Die Frau trat hinzu, während der Mann den Burschen an seinem kräftigen Ärmchen hielt. Er herrschte den Kleinen an, schimpfte und fragte, was es hier zu suchen habe, worauf das Männchen zurückgab: «Das Gleiche wie du. Ich wohne hier.» – «Unsinn. Verschwinde augenblicklich, Du gehörst nicht hierher.» – «Dann lass mich los.» – «Und was soll der Lärm?» – «Welcher Lärm?», fragte das Männchen zurück. – «Du weisst welcher Lärm. Dein Lärm.» – «Mein wundervolles Singen? Mein Klingen? Die Düfte?» – «Dein Lärm!», beharrte der Mann und die Frau nickte beistimmend. – «Ihr seid Dummköpfe», bemerkte der Wicht, «Holzköpfe. Nun wisst ihr’s und jetzt lass’ mich los.» – «Beleidigen kannst du auch», schimpfte nun die Frau. «Pass auf, sonst kriegst eine Watschen» drohte sie, traute sich aber nicht, den Kleinen anzufassen.

Dieser drehte mit der freien Hand eine Nase und lachte auf. «Ihr versteht nichts. Gar nichts. Ihr hört nur, was andere hören, seht nur, was andere sehen, riecht und schmeckt nur, was andere tausend Mal gerochen und geschmeckt haben. Und für wohl und gut und schön und wahr gehalten haben. Dafür lebt ihr! Das hält ihr für höheres Leben, für lebenswert. Gar nichts wert ist es. Ein Echoleben ist es, das ihr führt.» – Die Frau nahm ihren Mut zusammen, holte aus und gab dem kleinen Wicht eine Ohrfeige. Das heisst, sie wollte ihm eine geben, doch der Kopf des Kleinen wurde um eins hart wie Stein und die Frau schrie auf. – «Pass’ auf, gib auf dich acht! Ich kann noch anders.» Plötzlich war der Kleine verschwunden, und die Hand des Mannes umfasste nichts, gar nichts, das heisst, nur Luft, doch konnte er sie nicht wegziehen; sie blieb erstarrt am Ort, bis der Kobold wieder sichtbar wurde.

«Das Einzige, das ihr kennt, sind Eintrittskarten», fuhr der Kobold weiter, «Eintrittskarten zum Schönen und Wahren. Und daran haltet ihr fest. An den Kartenpreisen. An den Wegweisern. An den Listen und Verzeichnissen. Als ob das Schöne und Wertvolle in Verzeichnissen aufzufinden ist. Und wenn ihr auch da noch einen Makel entdeckt, ein nicht ganz rein gestimmtes Piano, einen zu dunklen Sopran, zu scharfen Salbei am Saltimbocca, dann erhebt ihr unbarmherzig die Stimme. Denn das ist das Einzige, was ihr könnt: das Wunderbare dem Urteil unterziehen. Und es mit anderem Wunderbaren vergleichen.»

Wieder verschwand der Wicht aus dem Griff des Mannes; ein Poltern war zu vernehmen; Stühle wurden von unsichtbarer Hand umgestossen, dann wurde es still und sanfte Klänge wie von einer zarten Harfe waren zu hören. Die Harfe – oder war es der Kobold? – schien zu flüstern, direkt in die Ohren des Paares: «Dabei entsteht das Schöne und Wertvolle immer wieder. Von Neuem. Von Altem und Neuem. Da und dort. Wo ihr es nicht vermutet. Im Grau des Alltags, im Surren des täglichen Betriebs. Überall. Immer wieder wird es gefunden, von einem Ohr, einem Auge, von einem Herzen. Vielleicht nur kurz, dann verschwindet es wieder. Aber es hat einen Geist in Unruhe versetzt, und in ihm klingt und blitzt es auf. Den Geist eines geistigen Arbeiters. Und dieser widmet ihm, dem Neuen, dem Unerhörten, dem Ungesehenen, seine ganze Kraft. Er lässt es erblühen, erschafft ein Werk, das bleibt. Nein, nicht ewig, aber doch eine lange Zeit. Bis auch es verschwindet, in der Woge des Meeres und im rinnenden Sand.»

«Behalte dein dummes Geschwätz für dich», zischte die Frau, «wir brauchen keine Belehrungen. Von dir schon gar nicht! Und stell’ die Stühle wieder richtig hin! Und: Verschwinde endlich!»

Der Kobold blickte ihr in die Augen – und schwieg. Tatsächlich erhoben sich die Stühle von selbst und stellten sich artig an ihre Plätze. Auch das Harfenspiel war verstummt. Dann löste sich der Kobold ganz langsam aus dem Griff des Mannes; sanft öffnete er dessen Finger und entwand sich. «Ihr habt gewonnen. Euer Haus. Es ist und bleibt euer Haus. Und alles bleibt so, wie es ist. Eure Ordnung. Ich aber verschwinde. Und finde mich an einem neuen Orte wieder.» Und schon war der Kobold entwichen, und nie mehr behelligte er das Paar, das seinen Vorsätzen treu blieb und alle angepeilten Spitzen erklomm. Nichts erinnerte mehr an den Kobold, kein Lärm, kein Klingeln, kein Harfenspiel. Beinahe nichts. Beinahe. Nur die Stühle blieben an ihrem Ort. Am Ort der bestehenden und bleibenden Ordnung. Sie waren angewurzelt, liessen sich mit keiner Kraft verschieben, nicht heben, nicht drehen, und alle Versuche des Paares halfen nichts.

Die beiden fanden sich schliesslich damit ab. Im Grunde waren die Stühle Zeichen ihres Siegs, und ab und zu durchflutete sie ein Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst.