Du sitzt in der Eisenbahn, abendmüde, müde wie alle anderen Passagiere, da kommt eine junge Frau und setzt sich dir gegenüber, beachtet dich mit keinem Blick – das braucht sie auch nicht, warum sollte sie? –, sondern setzt sich aufrecht und mit durchgerecktem Rücken vor dich hin, ziemlich nahe also, ausgesprochen nahe sogar, sozusagen Gesicht gegen Gesicht, aber beachtet dich nicht – du bist dir bewusst, dass sie dich keineswegs beachten muss.

Was nun? Warum soll das beschrieben werden? Weil sie, die kräftige junge, hübsch gekleidete Person, mit ausdrucksstarkem, vollen Gesicht und dickem braunem Haar, heller, gepflegter und zugerichteter Haut und vollen, rot geschminkten Lippen, derart ausstrahlt, so muss man schreiben, dass dir nichts anderes übrig bleibt, als sie entweder anzustarren – eine Statue, die so dasitzen oder dastehen würde, würdest du doch auch eine Weile innig betrachten, ihre Schönheit bewundern, oder ihre Ebenmässigkeit, du würdest dir Gedanken machen über die Weiblichkeit an sich – die Frau ist in einen Mantel und ein buntes Halstuch gewickelt, trägt farbige Handschuhe, und auch all die Farben erregen deine Aufmerksamkeit – du würdest ja auch vor einer mykenischen Skulptur stehenbleiben und sie mit aller Hingabe betrachten, oder vor einer Figur Maillols, natürlich, du würdest dich über die Schönheit des weiblichen Körpers, des weiblichen Gesichts freuen und dir Gedanken machen, jene Gestalten würden dich faszinieren, und faszinieren heisst, sie würden dich erregen, würden deine ganze Andacht fordern, aber hier in der Eisenbahn geht das ja nicht, so denkst du, du bist ja kein Kind mehr, das Menschen in seiner Umgebung einfach und beliebig lange anstarren darf.

Andererseits: Wenn doch jemand – eine Frau! – so wunderschön ist und wenn sie darüber hinaus ihre Schönheit nicht nur spazieren führt, sondern sogar noch betont, sich also herausputzt, wenn eine Frau gerechtermassen sich zum Zentrum der Aufmerksamkeit stilisiert, dann erwartet sie doch wohl, dass sie angestarrt wird, denn es wäre doch eine Unhöflichkeit, um nicht zu sagen eine Geschmacklosigkeit und tölpelhafte Unaufmerksamkeit, sie nicht anzustarren, insbesondere, wenn man ihr nur wenige Zentimeter entfernt gegenübersitzt. Nur ist da wieder einzuwenden, dass sie vielleicht von anderen überaus gern angestarrt wird, von irgendwelchen anderen, hauptsächlich von anderen Männern, vielleicht sogar mit einem Blick des Begehrens, womöglich von allen anderen Männern, vielleicht will sie ihre Schönheit überallhin ausstrahlen, aber ausgerechnet nicht in deine Richtung, vielleicht bis du, genau du, unter all den Männern, die sie anstrahlt, ihr ausgesprochen unsympathisch, vielleicht verabscheut sie dich, gerade und ausgerechnet dich, auch wenn sie sich dir in Mikrodistanz gegenüber gesetzt hat, denn das könnte eine Unaufmerksamkeit ihrerseits gewesen sein, sie könnte bei der Wahl ihres Sitzplatzes unglücklicherweise nicht genauer hingeguckt haben, das kann doch jeder Frau einmal passieren, so könnte es gewesen sein, zumal der Waggon eben gerade in der Stosszeit randvoll besetzt war, sie also gar keine Chance oder Zeit gehabt hatte, genauer hinzuschauen und ein wohlgefälligeres Vis-à-vis zu finden und ergo mit dir hatte Vorlieb nehmen müssen, mit dir, der möglicherweise ihre Abscheu derart herausforderte, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als vollkommen starr wie eine Säule dazusitzen, so lange, bis sie ihren Zielbahnhof erreicht hatte und von dir erlöst sein würde.

Wenn es also ungebührlich gewesen wäre, die junge Schönheit unverwandt anzustarren, was hättest du stattdessen tun sollen? Die Gratiszeitung lesen, die überall herumliegt? Wirklich? Soll einer Zeitung lesen, wenn die schönste Schönheit auf Erden direkt vor ihm sitzt? Wenn also das Glück der platonischen Idealität direkt vor seinen Augen prangt? Liest da einer die Zeitung? Gibt es überhaupt jemanden, der so dumpf von Gemüt ist, dass er ausgerechnet in einem nichtwiederkehrenden Augenblick reinster Vision der Schönheit das Banalste tut, was einer überhaupt tun kann: Zeitunglesen? Oder sollte er an seinem Handy herumfummeln, wie das heutzutage alle Welt tut? Und was dort anschauen? Museumsstatuen im Internet? Eine solche Dummheit, ja Blödheit kann sich ja wohl keiner in einem solchen Augenblick ausmalen. Das hättest du dir wohl auch nie verziehen. Denn wonach strebt der Mensch? Doch nach Glück! Wonach denn sonst? Und wenn das Glück mit Händen zu greifen ist? Dann soll es doch um Himmels Willen einer ergreifen, so höre ich es rings um mich rufen.

Doch das wäre sicherlich noch viel weniger am Platze gewesen als anzustarren. Ergreifen! Wer ergreift denn eine ihm fremde Frau in der vollbesetzten Eisenbahn? Oder auch in der leeren Eisenbahn, wenn wir den Gedanken weiterspinnen. Das ist doch genau das, wogegen sich die Frauen heutzutage mit aller Kraft und aller politischen Verve stemmen, wogegen sie sich solidarisieren: dass sie von einem windigen Dingsda einfach ergriffen werden, ja möglicherweise zu Handlungen gezerrt und gezwungen werden, die nicht nur unschicklich, sondern ganz einfach verwerflich und kriminell sind und wogegen mit aller Staats- und Polizeigewalt eingeschritten werden muss.

Das wolltest du keinesfalls riskieren, und als im Tiefsten kriminell musste dir schon der Gedanken vorkommen – wie damals in der Religionsstunde, als einem klar gemacht wurde, dass wer nur schon in Gedanken sündigt, wer also zum Beispiel die Frau eines anderen begehrt, bereits Unzucht betrieben hat –, auch wenn er erst jetzt beim Schreiben offensichtlich und klar wird, aber dass der Gedanken überhaupt, wenn auch verspätet und beim Schreiben, auftaucht, wirft ein schräges, ja trübes Licht auf deine und somit auch auf meine Person, auf die Person des Skizzen-Schreibers, ich bin mir dessen vollkommen bewusst, und muss mir überlegen, ob ich diese Zeilen weiterschreiben oder ersatzlos streichen soll, denn es könnte ja sein, dass nur schon das Erwähnen solcher Denkwindungen mir eine entsprechende Staatsgewaltsüberwachung eintragen könnte. Ich sollte also höchst vorsichtig mit meinen Worten – auch mit den geschriebenen – sein, denn es gibt im Internet mittlerweile Programme, die genau solche Zeilen mit untrüglicher Präzision aufspüren und deren Schreiber auf eine Watchlist setzen, auf eine Liste verdächtiger, ja gewaltverdächtiger Personen. Wer aber einmal auf einer Watchlist eingetragen ist, kommt nie mehr davon los, und es ist eine Frage der Zeit, bis nicht nur sein Eintrag, sondern ich selbst in Person überwacht und prophylaktisch mit einer Fussfessel versehen werde.

Sollte ich das riskieren, oder besser diese Zeilen löschen? Andererseits könne ich mit ihnen immerhin denjenigen einen Dienst erweisen, hauptsächlich den Männern, also meinen Geschlechtsgenossen, die sich solches noch nie genauer überlegt haben und die somit grosse Risiken eingehen, wenn sie arglos in simple Interregioeisenbahnzüge einsteigen. Ich könnte ihnen zum Beispiel raten, bei der Tür genügend lange stehen zu bleiben und zu warten, bis sich alles gesetzt hat, und erst dann einen unverfänglichen Platz zu suchen und zu sichern. Allerdings müssen sie dabei auf das grosse, ja grösste Glück verzichten, auf das Glück, der reinen, absoluten, Fleisch gewordenen Schönheit Auge in Auge zu begegnen.