… Er lag auf dem Sofa, das Bierfläschchen bequem in Reichweite auf dem Salontisch, den Blick auf den grossen Bildschirm an der Wand gerichtet. Emil hatte sich den neuen Fernseher aus den zusammengesparten Überstundengeldern geleistet – eine Aktion des Video-Marktes hatte ihn überzeugt.
Der Nachmittag war längst angebrochen und heiter; die Sonne schien, was Emil nicht davon abhielt, fernzusehen. Das Wohnzimmer war gut geheizt, und der Vorhang gezogen, so dass keine Strahlen der tief stehenden Sonne auf den Bildschirm fielen. Emil räkelte sich entspannt. Entspannung tat gut, und eben hatte der Kriminalfilm angefangen. Alles war perfekt. Mikki war an der Arbeit, und würde gegen Abend nach Hause kommen; er würde das Abendessen vorbereiten und dann bald einmal ins Bett gehen.
Bevor der Krimi anfing, hatte Emil die letzten Sequenzen einer Diskussion halb gelangweilt, halb interessiert mitbekommen. Über Robotik und KI. Künstliche Intelligenz. Irgendwelche Leute von der Uni. Wissenschaftler und Ökonomen. Es ging um die Frage, wie lange es dauern würde, bis alle Arbeiten von programmierbaren Maschinen übernommen worden sind. Emil schüttelte den Kopf. Natürlich war ihm bekannt, dass die Autos, wenigstens die kostspieligeren, selbständig einparkieren konnten. Bald würden sie ganz selbständig fahren. Emil verzog die Lippen. Er war ÖV-Benutzer. Die Busse und Eisenbahnen fuhren immer schon ohne Emils Zutun. Allerdings nicht selbständig, sondern mit Chauffeuren und Lokführern.
Der Krimifilm zog sich in die Länge und war wenig spannend. So blieb er im Geiste an der Robotik hängen. Logisch, dass früher oder später alle Autos selbständig fahren würden. Eine Frage der Zeit. Wenn alle Autos gleichzeitig umstellten. Wenn nicht … dann … Dann würde es wohl Schwierigkeiten geben, dachte Emil. Unfälle – zum Beispiel Zusammenstösse zwischen computergelenkten und menschengelenkten Autos. Die Juristen hätten zu tun; denen würde die Arbeit nicht ausgehen. Oder doch? Gäbe es dann auch Computerprogramme, die solche Sachverhalte und Schuldabklärungen durchführten? Sogar die entsprechenden Urteile fällten? Warum nicht? Emil schloss es nicht aus.
Dann wären also alle Menschen ersetzbar? Ausser den Wissenschaftlern und Ökonomen? Glaubten die tatsächlich, dass sie dereinst am Schreibtisch ihren Robotern befehlen konnten, was zu planen und zu konstruieren und zu bauen war? Selbst konnten sie dann in der Cafeteria Cappuccino trinken und warten, bis die Chose betriebsbereit auf dem Tisch stand. Das neue, eben von ihnen ersonnene Maschinchen?
Und wer würde es kaufen? Die bereits gefertigten Roboter? Die intelligenteren unter ihnen? Würden die so intelligent sein, dass sie an Geld herankämen? Würden sie gar versuchen reich zu werden? Wäre ja eine Möglichkeit. An der Börse. Oder sie würden wiederum neue und noch bessere Maschinchen planen und von anderen Robotern konstruieren lassen.
Emil schmunzelte. Er hatte den Krimifaden endgültig verloren. Die Roboter würden dann die Menschen nicht nur ersetzen. Sondern abschaffen. Solches hatte er auch schon gehört oder gelesen – darüber äusserten sich Philosophen sogar im Lokalblatt –, oder es war am Stammtisch verhandelt worden. Emil schmunzelte und schüttelte den Kopf. Er selbst würde das zwar nicht mehr erleben. Er war noch nicht alt, und die Pension war noch bei weitem nicht in Sicht. Er war aber auch nicht mehr jung. Einer der Ökonomen in der Sendung hatte sich sogar verstiegen zu wetten. Die Künstliche Intelligenz sei so rasch im Vormarsch, dass die Menschen innert weniger Jahre vollkommen von der Handarbeit befreit seien. Übrigens auch von der Büroarbeit. Die Produktivität der Wirtschaft würde gleichzeitig dermassen steigen, dass jedermann auf ein Grundeinkommen zählen könne. Unter «jedermann» verstand Emil nicht Roboter, sondern Menschen. Männer und Frauen.
Emil runzelte die Stirn. Er hatte kein Verlangen nach einem Grundeinkommen. Aber er fragte sich, ob er auf die Wette einsteigen sollte. Die Wette mit dem Ökonomen, dessen Namen er bereits vergessen hatte. Er könnte wenigstens in Gedanken darauf einsteigen. Wie lange es dauern würde, bis Emil von einem Roboter abgelöst und auf ein Grundeinkommen zurückgestuft werden würde.
Emil fragte sich, ob sich eine Umstellung volkswirtschaftlich rechnen würde. Es müsste billiger sein: Emils Grundeinkommen plus die Anschaffung des Roboters billiger als Emils derzeitiges Einkommen. Man könnte natürlich härter verfahren und ihm das Grundeinkommen verweigern. Die Rente. Ihn zwingen, zum Beispiel Ökonomie zu studieren. Ökonomen sehen sich ja offenbar nicht von der Robotik bedroht. Emil grinste vor sich hin. Er spürte keinerlei Lust, sich der Ökonomie an den Hals zu werfen, nur weil sozusagen ein Roboter vor der Tür stand und ihm die Arbeit streitig machen wollte.
Der Krimi war immer noch unterwegs, und Emil blickte auf die Uhr. Mikki würde bald einmal nach Hause kommen. Emil erwog kurz, nicht zu kochen, sondern etwas Kaltes vorzubereiten – Mikki war ohnehin seit einigen Tagen auf Diät. Er, Emil, brauchte allerdings etwas Handfesteres. Kein Müesli mit Joghurt. Mikki würde übrigens auch ersetzt werden. Sie arbeitete in der Pflege. Da sei man in der Robotik auch bereits sehr weit. Nämlich am Ersetzen der Pflegerinnen. Jedenfalls in Asien. Wie das vor sich gehen sollte, konnte sich Emil allerdings nicht vorstellen. Vielleicht sind die Asiaten anspruchsloser. Und die Pflegeheime normierter. Wer weiss, die Menschen vielleicht auch. Die benötigen alle dasselbe. Beim Baden, Ankleiden, Zähneputzen, Essen, Medi Einnehmen und so weiter.
Emil kam in Gedanken auf die Wette zurück. Wie lange es gehen würde, bis der Roboter ihn, Emil, schlagen und ersetzen würde. Emil den Künstler. So wurde er genannt. Auf der Baustelle. Emil kannte sich aus. Im Schaufelbaggerfahren. Auf trockenem und matschigem Boden. Mit grossen und kleinen Maschinen. Auch mit ganz grossen. Die kleinen waren heikler. Da, wo man Emil einsetzte. Üblicherweise da, wo’s gefährlich war. Unübersichtlich. Wo man nicht wusste, ob man durchkam. Weil’s zu eng war. Oder zu schräg. Zu rutschig. Zu glitschig. Emil wusste, was drin lag und was nicht. Das interessierte die Ökonomen zwar nicht. Auch diejenigen seiner Firma nicht. Aber es interessierte den Werkleiter, und darum bezog Emil ein gutes Gehalt. Er war vollkommen zufrieden damit.
Im Winter allerdings pflegte Emil umzusatteln. Genauer: Er wurde ausgeliehen. Der Stadt. Und darum lag er vor dem Fernseher. Schneefall war angekündigt für die Nacht. Emil blickte zum hinteren Fenster. So sah es auch aus. Düster und milchig. Er nannte es so. Düstermilchig, wenn mit Schnee zu rechnen war. Er würde um drei Uhr in der Früh auf dem Schneepflug sein. Im Laufe des Tages dann auf der Fräse. Bis zur Ablösung. Auch da war er ein Künstler. Bei jedem Schnee, bei jeder Temperatur. Im Zentrum der Stadt, wo jedes Mal mindestens einer, meist aber eine ganze Reihe von Dummköpfen mit falschen Pneus herumfuhr oder schleuderte oder schräg in der Strasse stand. Wo die Trams fuhren. Er kannte sich aus. Auch in den Quartieren. Er wusste, auf welcher Höhe der Schnee wässrig wurde. Er konnte zentimetergenau an den parkierten Autos vorbeifahren. Je näher und genauer, desto besser würden sie am nächsten Morgen aus dem Parkplatz kommen. Er war exakt und zugleich schnell. Auch mit der schmalen Maschine auf den Trottoirs. Das war seine Spezialität. Emil war sogar Testfahrer für die Lieferfirmen. Das interessierte zwar auch niemanden, aber Emil war stolz darauf. Die würden ihn irgendwann ablösen? Mit einer Software den Pflug und die Fräse präziser fahren als er? Vermutlich. Sie müssten dann vielleicht die Trottoirs abschaffen. Oder wenigstens normieren.
Das würde eine Weile dauern. Kopfsteinpflaster ersetzen, Granitabschirmungen der Trottoirs. Emil pflegte die die Pflughöhe während des Fahrens millimetergenau anzupassen. Er kannte jeden Buckel, jede Unebenheit, jeden verschneiten Hydranten, jede hervorkragende Kanalisationsabdeckung. Eine Herausforderung, ihn ersetzen zu wollen. Für einen Bürolistenprogrammierer. Aber Emil war kein Zukunftspessimist. Irgendwann würde es einer schaffen, ein Programmierer. Zusammen mit einem Wissenschaftler. Den Schneepflug neu konstruieren. Grösser. Oder kleiner. Viel kleiner. Womöglich würde das die Lösung sein. Wendige Mikroschneepflüge. Von der Grösse eines Suppenhuhns. Oder eines Staubsaugers. Emil machte sich keine Illusionen. Er und der Schneepflug würden ersetzt werden. Das heisst nicht er, sondern sein Nachfolger. Er selbst würde noch durchhalten. Da würde er die Wette aufnehmen, er würde sogar seine Pension verwetten, dass man zu seiner Lebensproduktivzeit – so oder ähnlich hatten sie es in der Diskussion genannt – keinen Ersatz für ihn finden würde. Weder einen Menschen noch einen Roboter.
Schwieriger würde es für Jonas werden. Emil drehte den Fernseher ab. Der Krimi war am Versanden. Für Jonas, seinen Sohn. Mikki wollte unbedingt einen Jonas. Emil hätte ihn wiederum Emil genannt. Schon der Vater hatte Emil geheissen. Es gab auch weitere Emils in der Sippe. Jonas würde keinen Schneepflug mehr fahren. Vermutlich auch keinen Bagger. Gemäss den erwähnten Wissenschaftlern und Ökonomen würde keine Arbeit mehr auf ihn warten – ausser natürlich, Jonas würde Wissenschaften oder Ökonomie studieren. Die Leute waren offensichtlich alle intelligenter als die Künstlicher Intelligenz, von der die Rede war. Jedenfalls waren sie davon überzeugt, nicht durch sie ersetzt zu werden.
Jonas war zwar erst in der Grundschule, aber nach einem Studium sah es nicht aus. Er war zwar kein schlechter Schüler; er war nicht einmal faul, er war womöglich gar fleissiger als Emil in seinem Alter, aber brillant war Jonas nicht, keine Spur, und für ein Studium musste man zweifelsfrei brillant sein, vor allem, wenn man die Künstliche Intelligenz schlagen wollte, und nach Emils Ansicht war Jonas weit davon entfernt.
Blieb für Jonas also nichts anderes als der Abstieg zur Existenz als Grundeinkommer. Und wenn er sich mit jemandem zusammentun wollte, mit einer Partnerin, dann würde die auch Grundeinkommerin sein. Nicht gerade begeisternde Aussichten für seinen Sohn, aber gemäss den TV-Diskutanten eine folgerichtige und unausweichliche Perspektive, die es zu akzeptieren galt. Emil akzeptierte sie auch, erhob sich vom Sofa holte das Gemüse aus dem Kühlschrank und begann es zu waschen und in kleine Stücke zu schneiden. Mikki liebte Gemüsesuppe. Vielleicht würde sie an diesem Abend auf ihre Diät verzichten. Emil hielt nichts von Diäten.
Wenn aber Jonas ohnehin keiner Arbeit mehr nachgehen würde, wozu wurde er dann jahrelang beschult? Zur Arbeitsbeschaffung für die Lehrer? Damit die erst später ausrangiert und durch Roboter ersetzt würden? Wozu diente denn all das, was Jonas – mühselig genug – zu lernen hatte?
Emil stellte einen Kochtopf mit Wasser auf den Herd und gab das Gemüse hinein. Die Zeit würde zum Garwerden reichen, bis Mikki nach Hause kam. Es würden also in Zukunft dreierlei Wesen die Erde bevölkern. Erstens die Roboter, zweitens die Grundeinkommer, und drittens – zuoberst natürlich – die Ökonomen und Wissenschaftler. Sozusagen der Adel. Emil hatte irgendwann einmal gehört, dass die menschliche Gesellschaft von jeher und überall in drei Schichten aufgeteilt gewesen sei. Ober-, Mittel- und Unterschicht. Adel, Bürger, Bauer. Herrscher, Freier, Leibeigener. Emil konnte das nicht überprüfen. Er kannte sich da nicht aus.
Immerhin: Die zukünftige Oberschicht war klar. Aber wer Mittel- und wer Unterschicht sein würde, Roboter versus Grundeinkommer, war für Emil zweifelhaft. Vermutlich würden die Roboter die Mittelschicht bilden, denn ihre Existenz wäre wertvoller als diejenige der Grundeinkommer. Jeder Roboter erhöhte die Produktivität, während jeder Grundeinkommer per se überflüssig und lediglich eine Kostenstelle war.
In diesem Moment klingelte es. Mikki war unten. Sie hasste es, bei der Heimkehr in der Tasche nach dem Schlüssel suchen zu müssen. Emil schritt hinüber zur Tür, drückte auf den Öffner – und brach seine Betrachtungen zur Zukunft ab.
…