… Eine Bemerkung zu Habermas. Dessen Geburtstag kürzlich gefeiert wurde. Mit riesigem Aufwand und in einer umständlichen, schwerfälligen, nur dem Hochschulstudierten verständlichen Sprache hat er dargelegt, dass man sich über das Handeln verständigen soll, indem man diskutiert und damit zu einem übereinstimmenden Handlungskonzept kommt. Wie trivial. Das haben schon archaische Gesellschaften nicht anders gemacht. Wenn nicht ein König die Dinge geregelt hat. Nur ist diskursive Verständigung – auf gut Deutsch heisst das ganz einfach: im Rat beratschlagen (der Rat war immer schon Gegner des Herrschers) – keineswegs frei von Machtverhältnissen. Diese Erfahrung macht jedes Kind und machen alle, die je an einer Diskussion teilgenommen hat. Jedermann und jedefrau weiss, wer in der Runde wie viel Macht hat. Man schlägt sich zu ihr – oder verbündet sich dagegen. Und versucht, seine Argumente durchzusetzen. Wenn’s geht – mit Macht.

Verständigung in einem Rat gibt es auf zwei verschiedene Weise: Man einigt sich auf einen gemeinsamen Zweck und auf die Mittel, mit denen man zum Erfolg zu kommen glaubt. Zweckrationalität heisst das. Oder man diskutiert so lange, bis sich eine Meinung durchgesetzt hat. Man kann auch sagen: Bis diese die Macht des Handelns ergriffen hat. Das kann sehr lange dauern – oder äusserst kurz. Weil sich die Mächtigen im Rat durchgesetzt haben. Natürlich kann einmal ein Ohnmächtiger einen Mächtigen von etwas überzeugen. Aber dann setzt nicht etwa er sich durch, sondern der Mächtige, der des Ohnmächtigen Argument übernommen hat. Lieber Habermas: Auch ich halte etwas von Argumenten. Von Verstand. Und Vernunft. Aber ich erwarte sie nicht. Um es klarzustellen: Zu den Mächten gehören physische Macht, das heisst Gewalt, ökonomische Macht, das heisst Besitz, institutionelle Macht, das heisst durch ein Kollektiv delegierte Macht (Verband, Staat usw.) und auch die magische Macht, die auf Suggestion und Charisma beruht. Und noch etwas existiert – leider: die Eitelkeit. Ein Argument wird vielleicht nicht gehört, weil man dem Argumentierenden den Verstand neidet. Darum gehört es zum diplomatischen Geschick, seine Argumente nicht allzu plakativ vorzutragen.

Eine Lehre ziehen wir aus Habermas’ Werk: Mag es grossartig sein, umfassend, tiefgründig, intelligent. Es ist nutzlos. Denn es ist für die Adressaten unverständlich. Ein Theoriebuch über menschliche Kommunikation muss für die Menschen praktikabel, alltagstauglich sein – und das ist Habermas Werk bei weitem nicht. Ich propagiere nicht Einfalt. Menschliches Denken, menschliche Entscheidungen sind komplex. Das weiss jeder Schuhverkäufer, der beim Verkauf von Sneakers fürs Töchterchen nicht nur dieses, sondern auch dessen Mutter, zudem den Geschäftsinhaber und nicht zuletzt sich selbst zufriedenstellen will. Aber ich erwarte von einer Theorie, die sich auf die menschliche Existenz bezieht, dass sie von diesen Existenzen verstanden und erst noch auf ihren Gehalt und ihre Bedeutung überprüft werden kann.

Habermas’ Erwartung, dass durch diskursives Beraten die Macht gezäumt und gezähmt werden kann, ist eine schöne Utopie. In der Realität existiert diese Machtegalität nicht. Und sie wird auch keineswegs durch Rat und Rede erreicht. Es geht nicht anders: Die Menschen müssen zur Egalität bereit sein, und willens sein, auch das Konzept eines anderen auszuführen. Das tun sie – ab und zu. Denn Menschen sind ab und zu kooperativ, brüderlich, freundschaftlich – und ab und zu rivalisierend, feindlich, einander fremd. Und kooperativ sind sie, so lange sie nicht fürchten, über den Tisch gezogen zu werden.

Selbstverständlich wird hier nicht behauptet, dass der Machtvolle – derjenige, der die physische, ökonomische oder magische Macht hat – sich einfach immer durchsetzt. Aber jedermann muss damit rechnen, dass sich der Mächtige durchsetzt. Womöglich hat der Machtvolle gar ein Interesse, sich nicht durchzusetzen, sondern sich zugunsten des Schwächeren zurückzunehmen. Womöglich hat er ein Interesse, dass der Schwächere stärker wird. Dass dieser sich seiner Stärke bewusst wird. Dass seine magische Kraft grösser wird. Zum Beispiel kann es innerhalb von Familienstrukturen zum Erziehungsstil gehören, den Kindern mehr Entscheidungsgewalt zuzumessen, als sie real an Macht besitzen.

Im Allgemeinen setzt sich der Mächtige durch. Und wenn von unseren Intellektuellen bedauert wird, dass sich die modernen Medien den Mächtigen unterwerfen, so ist zu bedenken, dass sich gerade die wortmächtigen Professoren, das heisst die Propagatoren ihrer Überzeugungen, wie das Beispiel Habermas zeigt, äusserst gern der Medien bedienen, um ihre Macht zu festigen.

Ich wünsche dir, lieber Habermas, weiterhin ein langes und reiches Leben. Und ich wünsche dir klareres Denken. Nämlich wieder strikt auseinander zu halten: das, was ist, was also Realität ist, von dem, was sein soll. Was «wünschenswert» für die Gemeinschaft ist.

Das, was ist, gehört je nachdem zur Physik, zur Menschenkunde, zu den Verhaltenswissenschaften, zur Soziologie. Und das was sein soll, nennt man seit eh und je: Ethik. Wohlverhalten. Anstand. …