… in der Schmalspurbahn – Ein schwarzgekleideter, kleiner, dicker, alter Mann stemmt seinen ebenso schwarzen, dicken Koffer, den er mit Mühe bis zum Abteil geschleppt hat, auf die Bank, setzt sich schwerfällig gegenüber und wartet wie alle anderen Passagiere auf das ebenso schwerfällige Anrollen der alten Schmalspurbahn, der man immer noch täglich zumutet, die aus lauter Kurven bestehende Strecke durch alle Täler und über alle Berge zu bewältigen, und das tut sie auch, mit Ächzen und Stöhnen, Knarren und ab und zu gar mit einem Blitzen, ausgelöst vom hart gefederten Stromabnehmer.

Während der Fahrt sinkt er immer tiefer in sich hinein, der Schwarzgekleidete, und man fragt sich, weshalb er diese beschwerliche Fahrt unternimmt, weshalb er seinem Alter keine Ruhe gönnt. Wer fährt denn noch herum, wenn er es zu Hause bequemer und übersichtlicher hat, und wenn schon: dann hätte er wenigstens auf seinen massigen Koffer verzichten können – warum schleppt einer noch solche Gewichte herum? Für unverzichtbare Verwandtenbesuche reichen doch eine Zahnbürste und etwas Wäsche.

Immerhin hat der Mann nun Gelegenheit zur Erholung von den Strapazen; keine überflüssige Bewegung mutet er sich zu, doch sind seine Augen wach, nicht dauernd, aber doch zeitweilig. So macht sich der halb träumende, halb neugierig beobachtende Abteilnachbar Gedanken über die Absicht hinter der Fahrt des Alten, über seine Mission.

Hat denn einer noch eine Mission? In diesem Alter? Gehört es nicht zum Alter, keine Missionen mehr zu haben, keine Aufträge, keine Geschäfte, keine Botschaft? Oder hat jeder eine Mission, jeder Mensch, wirklich oder vermeintlich? Dies die Gedanken des Mitreisenden, der, je länger er den Mann beobachtet – unaufdringlich, diskret – desto mehr kommt er ins Phantasieren über ihn, und er dreht das Rad der Zeit im Geiste zurück und stellt sich den Alten als Jugendlichen vor, als einen beseelten Jugendlichen, der die Welt bewegen will, der sich vornimmt, eine Mission, eine Aufgabe zu erfüllen, ein Ziel zu erstreben. Und nicht nur ein Ziel, sondern das höchste Ziel. Und das höchste Ziel, das haben sich die Menschen, seit sie erwachten, immer so gedacht, ist das Göttliche, ist das, was über ihn, den Menschen hinausstrebt, und unser ehrenwerter Jugendliche, den wir anerkennend Onorio taufen, hatte sich dieses Göttliche zur Mission erkoren. Und damit seine Berufung gefunden, spätestens, als man ihm im Dorfinstitut, oben in Santa Maria, dieses Göttliche als ein Allmächtiges darlegte, das den Menschen zur Prüfung in sein Leben schickt und dann wägt, ob er der Ewigkeit, der ewigen Erlösung würdig sei oder verworfen werde. Onorio war begabt, fleissig und so war es ganz natürlich, da er sich das Ziel schon in seiner Jugend gesetzt hatte, dass er sich zur Geistlichkeit berufen fühlte. Zum Predigen dieser ewigen Wahrheit, dieser Bestimmung des Menschen.

So hatte er es gelernt, als Kind: dass der Mensch erlöst wird, vom Tod und von der Sünde und von der ewigen Bestrafung, und so wie er es gelernt und verstanden hatte, so pflegte er die Überzeugung, diese Verkündigung weiterzugeben.

Das hiess Studium, Priesterseminar, Weihe, Gehorsamkeit. Es hiess auch Verzicht. Verzicht auf das Weltliche, auf Lustbarkeiten, auf irdische Liebe zugunsten der himmlischen Liebe und Gnade. Und aus Onorio wurde Don Onorio, il prete, der Prediger, denn das Predigen war es, das Unterweisen der Menschen, dem seine ganze Leidenschaft galt. Alle anderen Obliegenheiten, die mit seinem Beruf zusammenhingen, hielt er für zweit- und drittrangig, auch wenn sie gemeinhin als Seelsorge bezeichnet werden. Für Don Onorio bestand die wirkliche Seelsorge in der sonntäglichen Predigt, was zur Folge hatte, dass in der ersten ihm zugewiesenen Gemeinde bald einmal eine Unzufriedenheit, ja ein Murren aufkam und man gezwungen war, Don Onorio abzuberufen. Folgerichtig wurde er zurückgeholt und in die Zentrale platziert, in die Diözesanverwaltung. Aus seiner Sicht bedeutete das eine Aufwertung und Beförderung, denn es war ihm nun vergönnt, neben dem Bürodienst gemäss dem Turnus zu predigen, und zwar in der Kathedrale, im grossen, würdigen Hause, wo sich sonntags immer noch eine stattliche Zahl von Messegängern einfand.

Wenn Onorio auch in jugendlichem Eifer früh seine lebensbestimmenden Entscheidungen gefällt hatte und ihnen treu blieb, so fiel ihm im Laufe der Jahre der Verzicht auf die Weltlichkeit schwerer und schwerer, vor allem in der düsteren Jahreszeit, und er konnte nicht umhin, sich mit einer Schwäche zu behelfen, die ihm wenigstens zu einem Schimmer von irdischer Freude verhalf: das Süsse. Ja er dachte bei sich, dass womöglich die unergründliche Vorsehung Süsses in die Welt gebracht hatte, um dem Verzicht, der Askese, dem Zölibat die letzte Spitze zu brechen.

Immerhin trieb Onorio keine Völlerei, sondern bemühte sich, Mass zu halten, selbst mit den Süssigkeiten, und dass er trotzdem stetig an Leibesfülle zunahm, war aus seiner Sicht der Lauf der Dinge, denn seine Altersgenossen, die er einmal im Jahr in jenem Dorf in den Bergen traf – so hatten sie es sich am letzten Tag im Institut beim Abschied geschworen – machten ähnliche Wandlungen in die leibliche Breite durch.

Diese jährlichen Begegnungen lagen Don Onorio ganz besonders am Herzen und für sie nahm er all die Jahre die nun beschwerlich gewordene Reise in der engen, schmalen Bahn in Kauf. Man traf sich samstags, in der Osteria, die zum einzigen Hotel des Ortes gehörte, wo er sich also bereits am Morgen einquartieren konnte. Dann fand man alle Zeit, sich auszutauschen, gleichzeitig die Köstlichkeiten des Landes zu geniessen, den Wein, der unten in den milderen Lagen wuchs, die Süssigkeiten, die man aus den Kastanien zubereitete, und auch wenn Don Onorio erst spät in der Nacht sein Bett aufsuchte, so war er früh am nächsten Morgen auf den Beinen, denn er verband die Reise stets mit dem Lesen der Messe und mit einer besonders sorgfältig vorbereiteten Predigt in der Kirche seiner Heimat. Mochten seine Institutskameraden alles Mögliche erreicht haben – berufliche Karrieren, glückliche Ehen, Kinder, gepflegte Wohnverhältnisse –, er, Don Onorio, hatte es zum Predigen in der Kirche gebracht, zwar nicht mehr auf der Kanzel wie zu früheren Zeiten, doch wenigstens am Ambo, am Pültchen hinter der marmornen Balustrade des Altarbereiches.

Diese seine Freude erklärt auch den schweren Koffer, der immer noch auf der gegenüberliegenden Bank liegt, bewacht von den klugen, regsamen Äuglein des Schwarzgekleideten, denn darin trägt er sein goldenes Messgewand mit sich, schwer und beschwerlich, aber nicht übermässig und untragbar schwer, denn das Gold, das seiner Botschaft angemessen erscheint, gibt ihm auch wieder die Kraft, es im unförmigen Koffer in diese enge und altmodische Bahn zu hieven.

Allerdings kamen nach und nach, insbesondere in schweren Momenten, doch Zweifel hoch, an denen er die längste Zeit herumstudieren konnte. Ob er den richtigen Weg gegangen sei. Der Verzicht, der ihm in seinem jungen Blut als ein frommes Opfer, ja als ein innerer Sieg vorkam, wurde ihm später schwer, denn dieser innere Sieg, der eine Entscheidung zum Kampf, zum Kampf gegen die Oberflächlichkeit des Irdischen, gegen die Maskenhaftigkeit des vergänglichen Lebens, die Unehrlichkeit, die Niedrigkeit, hatte eine Einsamkeit zur Folge, die er vor allem an den dunklen Abenden zur Winterzeit drückend wahrnahm.

Diesen Zweifel zu zerstreuen – wie er angenommen oder erhofft hatte – gelang ihn nicht, im Gegenteil: Er fragte sich immer wieder, immer mehr, ob denn überhaupt ein solches Opfer erwartet werden konnte. Von wem? Von Gott? Warum? Oder von der Kirche? Weshalb? Als bedingungslose Hingabe an die höchste Macht? Oder an die Macht der Kirche? War diese gerechtfertigt? Diese Fragen vermochte er nicht beantworten – er blieb bei ihnen stehen, und wenn sie ihn allzu sehr drückten, konnte es geschehen, dass er Trost bei einer der Süssigkeiten fand, die in der nicht weit entfernt gelegenen Konditorei auf ihn warteten. Schon als Kind empfand er das Süsse als von einem Zauber beseelt, als etwas Himmlisches, etwas Göttliches. Es war auch grundsätzlich nichts Verbotenes, sondern sozusagen Kompensation für all den Verzicht, zu dem er aus eigenem Entscheid bereit gewesen war. Und jedes Mal, wenn er sich dem Zauber hingab, löste dieser eine Fülle von Träumen und Phantasien aus, die ihn nicht nur die leiblich erlebte Süssigkeit, sondern auch ein grenzenloses geistiges Schweben empfinden liess.

Er nannte es Schwäche, obwohl er nicht einmal genau wusste, in welcher Hinsicht er es als Schwäche bezeichnen sollte: Schwäche des Fleisches dem Geistigen gegenüber, oder, viel irdischer angesichts seines allmählich zunehmenden Gewichts und Bauchumfanges, ungesunde Lebensweise, die ihn ab und zu in die Arztpraxis in der Nähe der Diözesanverwaltung führte. Onorio war sich bewusst, dass Unmässigkeit zu den schwereren Sünden zu zählen ist, aber er wehrte sich gegen den Verdacht, diese Grenze bereits überschritten zu haben.

Er liebte das Süsse in jeglicher Form: Gebäck, Desserts, Schokolade, Eis, reife Früchte wie Ananas oder am liebsten die süsseste Frucht, die Khaki im Winter, wenn sie den ersten Frost überstanden haben. Es war sein Kompromiss, sein Trost, ja es gelang ihm damit, die Schwermut, die ihn bisweilen anschlich, in Schach zu halten.

Und doch war es das Süsse, das ihn einst, vor langer Zeit, in Versuchung brachte, und zwar bei einem dieser jährlichen Treffen, mit den Kommilitonen, den Studienkollegen, bei den Freuden des Wiedersehens in Santa Maria Maggiore, in der Osteria.

Nicht verborgen war ihm geblieben, dass die Osteria und mit ihr das Albergo, das zugehörige Hotel, einen allmählichen Niedergang hatte durchmachen müssen; die Pächter blieben nie lange, denn nur wenige Touristen verirrten sich in das abgelegene Gebiet, trotz des täglich beflissenen Keuchens der schmalen Eisenbahn durch die bewaldeten Hänge, so dass von einem prosperierenden Wirtschaften keine Rede sein konnte und noch weniger von kostspieligen Investitionen. Immerhin schätzte Don Onorio die Nähe der Kirche, die in Sichtweite des Hotels lag. Er bevorzugte kurze Wege, obwohl ihm sein Arzt immer wieder einmal regelmässige Spaziergänge empfahl oder gar verordnete.

Doch als er wieder einmal ins Dorf hinauffuhr und zum ersten Mal das Schleppen des Koffers als Mühsal empfand, hatte sich etwas geändert. Er musste nicht an der Rezeption die Klingel bedienen und dann die längste Zeit warten, bis es im Haus rumorte und sich jemand bequemte, ihn zu empfangen. Diesmal hatte er kaum das Hotel betreten, als eine adrette junge Angestellte auf ihn zueilte, um ihn zu empfangen. Sie besorgte in Windeseile die Registration, nahm zur Kenntnis, dass er es schätzte, das gewohnte grosse Zimmer mit Blick auf die Kirche und den Sonnenuntergang zu erhalten, und bat ihn anschliessend zu einem Kaffee in die Gaststube – den Koffer würde man sogleich hinauf ins Zimmer bringen. Er brauche sich im Übrigen auch nicht mit den Treppen abzumühen, man haben einen Lift eingerichtet.

Das Hotel war aufgefrischt worden, wirkte heller, luftiger, gepflegter, und Don Onorio entschloss sich, zum Cappuccino ein Stück der verlockenden Tarta di castagna zu gönnen, die im Kühlkasten wartete; er würde dafür das Mittagmahl etwas hinausschieben. Onorio richtete sich bald einmal im erneuerten Zimmer ein, genoss nach dem Mittagessen, das er in Erwartung des feierlichen Abendessens asketisch karg gehalten hatte, ein längeres Schläfchen, blickte nochmals durch seine Notizen für die sonntägliche Predigt bis zum Eintreffen seiner Kameraden. Dies erfolgte wie immer mit umständlichen und lauten Begrüssungen und den ersten leichten Apéros, dem Austausch von Neuigkeiten, von Veränderungen in Familie, Beruf, Wohnsitz, ja und auch in Liebesangelegenheiten, was bei Onorio jeweils ein gewisses Unbehagen auslöste, insbesondere, wenn dies mit allzu freizügigen Details verbunden war. Er liess sich jedoch nichts anmerken; man war ja schliesslich unter sich, und Onorio wollte den Anschein vermeiden, allzu zartbesaitet zu sein.

Und natürlich folgte bald einmal das reichhaltige Essen, das diesmal himmlisch schmeckte. Frischem Salat in allen Variationen und Fisch aus heimischen Gewässern folgte Wild mit reichsten Beilagen. Man nahm sich alle Zeit zwischen den Gängen, und nach der napoletanischen Eiskomposition, der man die längste Zeit huldigte, wurde zu einem späten Kaffee, den sich niemand nehmen liess, Zitronentorte serviert.

Die Wirtin, die Onorio nachmittags nur kurz zur Begrüssung gesehen hatte, kochte selbst, hatte aber genügend aufmerksames Personal für das Speiselokal, das ansprechend besucht war – offensichtlich hatte es bereits einen guten Ruf erworben, wie Onorio feststellte. Die Männer waren angeregt am Diskutieren, über Gott und die Welt, so sagt man, aber es war weniger über Gott als über den Lauf der Zeiten, über die Unberechenbarkeit aller menschlichen Unternehmungen, über die Eitelkeit der Politiker und deren Unzuverlässigkeit und über düstere Aussichten in der Wirtschaft, und folgerten einstimmig, dass die Profitgier zugenommen habe und man kaum mehr eine ehrliche Seele treffe. Allerdings war alles nicht so ernstgemeint, sondern diente vielmehr dem gegenseitigen Überbieten mit wortreichen Spässen und gelungenen ironischen Vergleichen, die man hier ungehindert austauschen konnte.

Onorio war längst in einer gemütlichen Weinseligkeit; man bestellt nochmals Süsses, und eine freundliche Kellnerin bringt wiederum von der Torte, von der Zitronentorte, die exzellent schmeckt, ja die Torte steht ganz in der Nähe, im gekühlten Schaukasten, wie wir das aus Italien kennen. Und eine Süssigkeit durchschwebt Onorio, eine milde Süssigkeit, und es kommt ihm vor, als ob ein riesiges steinernes Gebäude, oder ein Keller, oder Gefängnismauern in ihm zusammenbrechen würden, doch Onorio lässt sich nichts anmerken, es sind Bausteine, die ihn begleitet haben, ein schiefer Vergleich, so denkt er, aber in diesem Zusammenbrechen ist alles schief, für Onorio – eben noch gerade gezogene Linien werden schief, die rechten Winkel werden stumpf oder spitz, und Onorio meint, nichts mehr richtig zu sehen, er weiss nicht, wie das kommt, es muss mit dem Raum, mit der Osteria zusammenhängen, denn er hatte kurz ein ähnliches Gefühl am Nachmittag, als die neue Wirtin sich zur Begrüssung einfand, auch da hatte er schon ein süsses, warmes Gefühl, und er meinte, die Wände wichen, und nun tritt diese Dame wieder an den Tisch und fragt mit warmer freundlicher Stimme, ob es denn auch geschmeckt habe; elegant entledigt sie sich ihrer Schürze, die Küche sei nun geschlossen, und einer seiner Kommilitonen nennt sie beim Namen – Maria – und lobt das Essen, und alle Tischgenossen stimmen ein.

Maria. Da fällt es Onorio ein; er erinnert sich: Maria. Das wohlige Gefühl steigert sich noch, das Gefühl, das er nicht kannte, das er nie erlebt hatte – ausser an diesem Tag. Natürlich kannte er das Gefühl der irdischen Begierde, das was die Psychologen Triebe nennen; er wusste, dass dagegen anzukämpfen war, und das war ihm auch immer gelungen, aber hier, in dieser Gaststube, hatte ein anderes Gefühl von ihm Besitz ergriffen, eine unendliche Süsse, die von der Torte überging zum freundlich lächelnden Gesicht der Wirtin Maria, die er zum ersten Mal sah – und doch nicht zum ersten Mal, denn es war jene Maria, die, ein, zwei Jahre jünger als er, in dieselbe Schule gegangen war, und an die er sich noch dunkel erinnerte – schon damals war sie umgänglich und freundlich gewesen, wenn er auch nie mit ihr engeren Kontakt gehabt hatte. Die Wirtin Maria wurde von den speisenden Herren an den Tisch geladen, doch sie blieb stehen und weilte nur für eine kurze Plauderei, denn sie hatte sich auch um die anderen Gäste zu kümmern.

Die heitere, vertrauliche, gelöste und beschwingte Stimmung des Abends wandelte sich bei Onorio in ein Gefühl, das ihm bis jetzt noch unbekannt war, eine Zuneigung zu Maria, eine Herzlichkeit, die sich auf geheimnisvolle Art von ihr auf ihn übertrug, eine Art Friedlichkeit, wie er es empfand, – oder vielleicht erst genauer bestimmen konnte, als er schon wieder allein in seinem Zimmer im Bett ruhte und über sein Erlebnis nachdachte.

Doch bald schon fiel er in einen unruhigen Schlaf voller Träume, unterbrochen von Wachzuständen, in denen er Maria nachstudierte. Maria und seinen neuentdeckten Empfindungen. Die sich verbanden mit Kindheitserinnerungen, mit Bildern von schweren, dumpfen Tälern im Nebel, Bildern von strahlendem Wintersonnenlicht, von sommerlichem Blühen und von Blütenduft, und immer wieder von Maria, die er sich mehr im Traum und in Gedanken vorstellte, als dass er sich wirklich so genau an sie erinnerte.

Das Leben hätte einen anderen Weg gehen können, und wenn er noch so überzeugt gewesen war von seiner Sendung, von seiner Berufung und den damit verbundenen Opfern, so waren es diese Bilder, die dem ihm bekannten Zweifel neue Nahrung verschafften.

Onorio schlief schlecht, wachte und träumte, träumte von schwerem Wald und von Licht, das durch bunte Kirchenfenster drang und von Licht über verschneite Weiden, und es war dieses Licht, das ihn damals hinuntertrieb, ins Priesterseminar, in die Studien, in die Theologie, in die Verwaltung der Mission, und es war dieses Licht, das ihn in diesen Räumlichkeiten gefangen hielt, das von ihm erwartete, seine Aufgabe da zu erfüllen, zuverlässig und fleissig. Und nun war es dieses Licht, das ihn wieder hinaufzog, ins Dorf, und er konnte die Lichter nicht mehr unterscheiden, es gab nur ein noch einziges helles Licht.

In dieser Nacht erschien es ihm, als ob sich alles gewandelt hätte – und als Onorio erwachte, am nächsten Morgen, misstraute er erst dieser Wandlung, diesen Gedanken und Gefühlen und fürchtete, es könnten Versuchungen sein, dann aber, richtig wach geworden, schalt er sich einen Krittler und Zweifler und Missachter eines Zeichens, das ihm einem Weg in eine ganz andere, hellere, heiterere Richtung wies.

Später als gewohnt erhob er sich, so spät, dass er nach der Morgentoilette und einem Espresso bereits zur Kirche hinübereilen musste, um rechtzeitig seine Gewänder überzustreifen und die Messe vorzubereiten. Don Onorio wollte sich keinesfalls eine Blösse geben, doch war er wenig konzentriert beim Lesen der Messe, was weiter nicht verwunderlich war nach dem langen Mahl am Vorabend, und doch war er in der Lage, auch so dem Ritus die gebotene Würde zu geben; sein festlich goldenes Messgewand war ihm treu behilflich.

Kritischer wurde es bei der Predigt. Onorios hatte sich das Mahnen zur Rückbesinnung, zur Rückkehr zum Einfachen, Nüchternen, Mass¬¬¬¬vollen vorgenommen, das Innehalten, die Warnung vor einem Leben, das nurmehr auf den Genuss gerichtet ist und Tieferes und Beständigeres vergessen hat. Nun aber fühlte er ein Zögern in sich, und zwar bereits beim Umziehen in der Sakristei. Er hatte nicht die Zeit, seine Predigt neu zu schreiben, aber er war sich im Klaren, die Wahl seiner Worte abmildern zu müssen, wollte er vor sich selbst ehrlich bleiben und nicht Wasser predigen und Wein trinken.

Das gelang ihm zufriedenstellend, wie er es selbst einschätzte, und als er sich seiner Messgewänder entledigt hatte und die Sakristei verliess, um zu einem wohlverdienten späten Frühstück in die Osteria zurückzukehren, begegnete er vor der Kirche ausgerechnet Maria, die die Messe besucht hatte. Er nutzte die Gelegenheit und lud sie zu einem kleinen Spaziergang ein, bei dem sie Erinnerungen an die Kindheit austauschten und Maria ihm Näheres über die Veränderungen im Tal berichtete, was Onorio aber nur mässig interessierte. Erst im Nachhinein beurteilte er diese seine Einladung zu einem Gang durchs Dorf als geradezu verwegen, denn die Dorfbewohner könnten diese Vertraulichkeit falsch und zwielichtig deuten. Auf keinen Fall wollte er ins Gerede kommen.

So verzichtete er strikt auf weitere gemeinsame Spaziergänge, freute sich aber in der Gaststube an den geselligen Begegnungen mit Maria, insbesondere nachmittags, wenn keine weiteren Gäste zugegen waren. Don Onorio hatte bereits am Sonntagnachmittag beschlossen, seinen Aufenthalt im Albergo zu verlängern – ausnahmsweise. Und so folgten für ihn die süssesten Stunden, die er je erlebt hatte. Wenn er aber sein Bett aufsuchte, spätabends, wenn die letzten Gäste bereits aufgebrochen waren und Onorio noch bei einem Schlummertrunk die letzten Worte mit Maria gewechselt hatte, wenn er diese wohlige Wärme genossen hatte, wenn er sich noch einen kleinen Schokoladentartuffo oder ein Stückchen von der Zitronentorte gegönnt hatte, wenn er Maria eine gute Nacht gewünscht und ihre Hand an seine Brust gedrückt hatte, so wurde ihm gleichzeitig heiss und kalt im ganzen Körper.

Onorio litt. Und Onorio war sich im Klaren, dass das Verliebtheit war. Er war verliebt in Maria, er war zum ersten Mal in seinem Leben verliebt – und musste mit Erstaunen feststellen, dass Verliebtheit keineswegs Begierde oder Begehrlichkeit war. Das hatte er sich immer vorgestellt, die ganze Zeit; er hatte in seiner Naivität Verliebtheit immer mit erotischen Wünschen verbunden, er hatte verliebte Menschen immer durch dieselbe Brille gesehen – und auch entsprechend beurteilt. Und nun musste er erkennen, dass diese Empfindung etwas ganz anderes zum Inhalt hatte. Nämlich den Wunsch, Liebe teilen zu können, so fasste er es in Worte. Liebe. Onorio war immer der festen Überzeugung gewesen, dass es im Leben darum ging, der grössten Liebe würdig zu sein, und diese grösste Liebe war Gottes Liebe zu den Menschen. Und des Menschen Aufgabe war, diese Liebe zu erwidern, und sie wachsen zu lassen, sie zu pflegen, auf dass sie gedeihe. Nun aber musste er erkennen, nein er musste wahrnehmen, fühlen, empfinden, dass diese Liebe, die er in seiner Verliebtheit ersehnte, etwas ganz anderes sein musste. Sie war nicht von der Art der Gottesliebe. Sie war viel unmittelbarer, war nicht eine grosse, hohe Liebe, nicht eine Liebe in die Höhe, sondern im Gegenteil eine Empfindung, die unmittelbar, die direkt alles einbezog, was sich rund um Onorio befand, jeden Gegenstand, jeden Lufthauch, jedes Licht, jede Falte der Bettdecke, die er vor sich sah – eine Liebe in die Breite und Weite.

Onorio haderte mit sich und machte sich Gedanken. Und er war sich im Klaren, dass er in einer schwierigen, ja sogar in einer verfänglichen Situation war. Obwohl er nichts Sündhaftes getan hatte, bis dahin jedenfalls nicht. Nicht einmal sündhafte Gedanken waren es, die er hätte bereuen müssen.

Nein, Onorio konnte sich nichts vorwerfen, ausser dass er nicht gleich montags wieder hinunterfuhr in die Stadt, in den Bistumssitz, sondern kurzfristig und ohne Absprache Ferien machte, wozu er sich berechtigt fühlte, denn bis anhin tat er dies höchst selten, und auch nur, um sich irgendwo am Meer in einem frommen Begegnungszentrum zu erholen.

Dies beschäftigte Onorio am meisten: die erwachende Erkenntnis, dass diese Liebe, die er für sich einmal die unmittelbare, die gegenwärtige Liebe bezeichnete, nichts Bedenkliches an sich hatte. Im Gegenteil, sie war etwas Reines, Unschuldiges, und er wunderte sich darüber, denn bis anhin war er der Überzeugung gewesen, dass irdische Liebe immer Ausdruck der Sinnlichkeit war, die es zu meiden galt, weil sie die Liebe zur Göttlichkeit zu verdrängen drohte.

Dieser Gedanke beruhigte Don Onorio zwischendurch, ja er beschwingte er ihn und löste ein Glücksgefühl aus, das Onorio noch nie erlebt hatte. Beunruhigender war der zweite Gedanke, der sich allmählich ins Bewusstsein vortastete, dann aber rasch drängend wurde: Welches war die Konsequenz dieser zarten, heiteren Liebe und Zuneigung?

Was würde nun folgen? Es musste etwas folgen, es musste aus diesen Begegnungen und Plaudereien, aus diesem unbeschwerten Austausch etwas Innigeres, Persönlicheres, Onorio wagte den Begriff «Partnerschaftliches» erwachsen, eine vertrauliche Nähe. Denn er fühlte eine derartige Verbundenheit mit Maria, als ob sie beide seit der Kindheit nie mehr getrennt gewesen wären und einen gemeinsamen Lebenswandel geführt hätten. In solchen Momenten vergass er, dass das alles nur seine Gedanken und Gefühle waren, und dass Maria zwar sichtbar herzlich und heiter war und sich alle Zeit für ihn nahm, aber ihrerseits in einem unbestimmten Verhältnis zu ihm stand, auch wenn er den Eindruck gewonnen hatte, dass dieses Interesse an ihm nicht etwa nur gespielt oder Höflichkeit der Wirtin oder Ausdruck von Respekt vor seiner Geistlichkeit war. Dabei wurde ihm allerdings bewusst, dass es nun daran ging, genauer zu erkunden, wie es um dieses Interesse bei Maria stand. War es gleiche Liebe, gleiche Neigung und Sehnsucht? Sehnsucht wonach? Sehnsucht nach ihm?

Don Onorio erkannte, dass er einen Schritt weitergehen musste. Es musste etwas geschehen, etwas Entscheidendes. Doch was? Ein Bekenntnis? Bekenntnis seiner Zuneigung zu ihr, zu Maria? Sollte er das tun? Durfte er das tun? War das überhaupt zielführend, denn wenn er einfach eine freundschaftliche Zuneigung empfand, dann brauchte er das nicht zu gestehen, dann war es aus den Gesprächen heraus selbstverständlich. Wenn es aber mehr war, dann war die Sache heikel, weil er ja, als Priester, nicht weitergehen durfte.

Natürlich wusste er, dass schon längst, ja seit jeher nicht alle seiner Mitpriester enthaltsam lebten, sondern dass sich einige auf eine wie auch immer geartete heimliche Partnerschaft eingelassen hatten. Vielerlei Gemunkel gab es in seinen Kreisen, kolportierte Geschichten, auf die Onorio nie viel Acht gegeben hatte, ja er erhielt sogar genauere Hinweise, wenn einmal einer der Mitpriester ihm Konkreteres beichtete. Onorio hatte vor solchen Schritten immer gewarnt und sie als unzulässig und sträflich verworfen, als des gewählten Amtes unwürdig. Als sündig. Und nun stand er vor demselben Dilemma. Denn die Zuneigung, die er verspürte, empfand er als durchaus rein und keusch, und doch war es nicht einfach eine Art familiäre oder freundschaftliche Sympathie, sondern es war viel mehr. Es war Liebe. Es bestand kein Zweifel. Sollte er sie Maria gestehen? Welches wären die Konsequenzen?

Immer wieder fragte er sich – ja er quälte sich damit: Empfand sie gleich wie er? Und was würde das bedeuten? Für ihn? Hatte sich bei ihr gleichzeitig und in gleichen Schritten eine Zuneigung, eine Liebe, ein uneingeschrängtes Verlangen nach ihm entwickelt? War das anzunehmen, war das sogar als sicher zu vermuten, war das eine allgemeine Gesetzlichkeit der Liebe, ein paralleles Wachstum? Sie hatten ja schliesslich miteinander dieselben Stunden geteilt, waren so innig und herzlich zueinander gewesen, dass ein Entwickeln der nämlichen Gefühle bei Maria anzunehmen war.

Dann aber brachen wieder Zweifel hervor: Das alles war doch keineswegs gesichert, ja es konnte reiner Wahn sein; Onorio rief sich in Gedanken zur Besinnung, zum Zügeln seiner Phantasie, denn es könnte bei Maria reine Herzlichkeit sein, Ausdruck ihres heiter beschwingten Charakters. Don Onorio musste erkennen, dass diese neue Liebe schwieriger und unberechenbarer war als diejenige, die er bis anhin gekannt hatte, die Liebe zum Göttlichen. Sie war ja eine vollkommen unverfängliche Liebe, gefahrlos, im Gegensatz zur Liebe gegenüber Maria. Diese war unberechenbar und sogar hintergründig gefährlich, gefährlich für ihn, denn wenn er diese Liebe Maria ans Herz legen würde – so war seine Phantasie – und sie erstaunt und sogar bestürzt reagierte, weil sich bei ihr nichts derartiges regte, so hätte er sich nicht nur eine Blösse gegeben, hätte sich nicht nur der Lächerlichkeit ausgesetzt, sondern hätte bei ihr auch seine Würde verloren, derer er sich als Geistlicher in ihren Augen erfreuen durfte.

Dieser Gedanke verwirrte ihn, und zusätzlich verwirrte ihn, dass er sich in der Liebe, in der menschlichen Liebe nicht auskannte, dass er nicht wusste, wie man sie mitteilte oder – genauer – miteinander teilte, wie man diese Gemeinsamkeit oder Gegensätzlichkeit ansprechen oder gestehen konnte; er wurde sich bewusst, dass er überhaupt nichts über diese Liebe kannte, ausser irgendwelche Geschichten, die er einmal gelesen oder die man im Studium empfohlen hatte, und Geschichten, die ihm von Ratsuchenden – ja auch bei Don Onorio wurde ab und an um Rat gefragt – erzählt worden waren, aber das waren ganz andere Geschichten, unharmonische, verzwickte und unerfreuliche Geschichten, schwere Geschichten, die so gar nichts mit der Leichtigkeit von Onorios eigener Liebe zu tun hatten.

Sein ganzes Sinnen, seine Gedanken kräftigten ein aufgekommenes Zögern und verhinderten die Tat oder wenigstens die den Gefühlen angemessenen Worte. Und der Beschluss, die nächsten Schritte Maria zu überlassen, löste in keiner Weise Onorios Problem, denn Maria zeigte ihrerseits kein entschiedeneres Vorgehen, sei es, weil sie gar kein Bedürfnis dazu hatte, sei es, weil sie nach alter Sitte der Überzeugung war, dass Avancen welcher Art auch immer Sache des Mannes sind.

Darüber hinaus musste Onorio mit verhaltener Verärgerung feststellen, dass bei alldem keine Zeit zu verlieren war, denn bereits hatte man aus der Diözesanverwaltung fragen lassen – die Frage war ihm pikanterweise von Maria überbracht worden –, wann er endlich geruhe, wieder in seine Amtsstube zurückzukehren, es würden da noch etliche unerledigte Korrespondenzen seiner harren.

Maria hatte sich beim Übermitteln der Nachricht eine Bemerkung erlaubt: Sie verstehe sein Pflichtbewusstsein, aber es sei doch schade, wenn er nun vorzeitig abreisen und die schönen Tage bei diesem milden Spätherbstwetter in den Bergen gegen den Nebel unten in der Ebene eintauschen würde. War das eine versteckte Annäherung Marias? Eine Zeichen dafür, ihn länger im Hotel behalten zu wollen? Ihn bei sich und für sich zu haben? Onorio spürte, wie eine Röte in sein Gesicht stieg, die er zu verbergen suchte, in dem er sich halb abwandte, dann aber fürchtete, sein Abwenden könnte als Distanzierung missverstanden werden und sich wieder zu Maria zurückdrehte und meinte, so wichtig könne das da unten, in der Verwaltung, unmöglich sein. Trockenes Papierzeug, das warten möge. Nicht der Rede wert.

Am liebsten würde er länger, viel länger bleiben. Onorio fasste die Gelegenheit beim Schopf. Schon längst, schon am Anfang, beim Spaziergang nach der Messe hatte man zum Du gewechselt. Zwar sprach ihn Maria erst mit Don Onorio an und erlaubte sich das vertrauliche Du nicht, doch Onorio bat darum. Man sei doch in die gleiche Schule gegangen. Habe die gleiche Kindheit verbracht. Maria hatte eingewilligt, ihn aber weiterhin Don Onorio genannt. Aus Respekt.

Nun betonte er, dass er gern bleiben würde und dass sie um Gottes Willen das Don fallenlassen solle, es mute ihn an, als ob damit eine schwere Last auf ihn drücke. Maria lächelte. «Dann nenne ich dich einfach Onorio. Wie früher. Warum bleibst du dann nicht einfach? Und machst Ferien?»

«Das ist bei uns nicht so einfach.»

«Kein Ferienanspruch also?» Ihr Ton hatte einen leichten Zug ins Spöttische, was Onorio besonders reizvoll fand, ihn damit noch stärker zu Maria zog, ihn aber andererseits auch befürchten liess, nicht ganz ernstgenommen zu werden, was er unter allen Umständen vermeiden wollte. Denn sein Verlangen nach Maria war zwar aus dem Gefühl der Leichtigkeit heraus geschehen, war aber nun, da es konkreter wurde und da er die Absicht hatte, es auch Maria kundzutun, alles andere als eine Tändelei, sondern eine höchst ernste Angelegenheit, setzte er doch seine ganze bisherige Lebensbahn, seine Bestimmung und Berufung, seine Bereitschaft, das Überirdische ins Zentrum seines Bestrebens zu setzen, aufs Spiel.

Das irritierte ihn. Sein Verlangen, seine Sehnsucht war nun fest mit der Überzeugung verbunden, den richtigen Weg zu gehen. Sich dem Weiblichen zu nähern, war für ihn nun keineswegs einfach eine Versuchung, wie er immer gefürchtet hatte, sondern im Gegenteil eine Erlösung, eine Erlösung von einer Last, deren Sinn er nicht mehr verstand, sondern die nur noch reine Bedrückung war, verbunden mit den Bildern des Kontors, der Büros unten im Nebel. Er verstand nicht mehr, was er da unten zu tun hatte, er verstand die ganze Administration nicht mehr, von der er ein Teil, ein kleines Teilchen war, ein Schreibtischteilchen, das vor lauter Beflissenheit um die ewige Erlösung den Bezug zum Leben verloren hatte, während das Leben, Marias Leben insbesondere, ihre heitere, wärmeversprechende Weiblichkeit Erlösung von dieser toten bürokratischen Verwaltung der Geistlichkeit bedeutete.

Onorio schüttelte schweigend den Kopf. Anspruch? Ferienanspruch? Worauf hatte er denn Anspruch? Worauf hat der Mensch überhaupt Anspruch?

«Anspruch? Es geht nicht um Ansprüche. Es geht um Sehnsucht. Nicht um Ferien. Sondern um – um eine Befreiung. Um dich.» Das war es. Dahin wollte er. Ehrlich sein. Sehnsucht nach Liebe hat nichts mit Anspruch zu tun. Auf Liebe hat man keinen Anspruch. Kein Recht. Es ist reines Sehnen.

«Um mich?», fragte Maria erstaunt – und mit einem Lächeln.

«Ja, Sehnsucht nach dir.» Onorio wagte alles.

«Du bist Priester.»

«Soll ein Priester keine Sehnsucht haben dürfen?», fragte Onorio. Es war ganz einfach. Wenn der erste Schritt getan ist, folgt ihm der nächste frank und frei. Gott lieben heisst nicht, auf die menschliche Liebe zu verzichten. Onorio war sich bewusst, dass er ein halbes Leben lang anders gedacht hatte, dass er anders gepredigt hatte, und dass er seine Mitgeistlichen, die wohl denselben Weg gegangen waren, als Schwächlinge und Verräter einer höheren Sache verachtet und verdammt hatte. Nun wusste er, dass er nicht recht gehabt hatte.

Maria lächelte immer noch.

«Soll ein Priester nicht lieben dürfen?»

«Doch. Sicherlich. Sehnsucht ist Sehnsucht. Aber vielleicht – ist das Ziel der Sehnsucht eine Illusion.»

«Du bist keine Illusion. Du bist gegenwärtig. Du bist lebendig. Und meine Liebe ist lebendig. Meine Liebe zu dir.»

«Auch ich habe dich liebgewonnen. Hier. Ausgerechnet. Aber …» Maria hielt inne und schaute zum Fenster hinaus.

«Ich weiss», unterbrach er sie, «mein Gelübde, mein Zölibat. Mein Versprechen. Doch: Wer hat das so festgelegt? Gott? Keineswegs. Sondern irdische Theologen. Die alles besser wissen wollten. Was Gott will und was nicht. Solche, wie ich es war. Wie ich es gewesen bin. Aber ich habe mich gewandelt. Dein Lächeln, deine Herzlichkeit haben mich gewandelt.»

Maria schüttelte den Kopf. Nachdenklich. Immer noch lächelte sie, aber ihr Lächeln hatte etwas Rätselhaftes angenommen, und wie sie wieder Onorio anblickte, mischte sich auf ihrem Gesicht eine Melancholie in dieses Lächeln. «Es geht nicht um dein Gelübde. Noch weniger um die Theologen. Es geht um die Wahl. Und um die Geschichte, die daraus folgt. Auch ich habe gewählt. Damals. Ich traf eine andere Wahl. Mit der gleichen Überzeugung wie du. Ich wählte die unauflösliche Liebe. Liebe, bis der Tod uns scheidet. So heisst es doch. – Und dann hat sich diese Wahl als trügerisch erwiesen. Als treulos. Und nun – kann ich nicht mehr wählen.»

«Warum nicht?»

«Weil die Überzeugung fehlt. Der Wille. Mein Wille.»

Onorio weinte, als er wieder in der Bahn sass, die ihn hinunterfuhr – nein, nicht in den Nebel, auch unten war der Herbst schön und heiter und mild. Er hatte nicht versucht, Maria umzustimmen, zu überzeugen, noch weniger: zu bedrängen. Dafür hatte er zu viel Respekt vor ihr. Und vor ihren Worten. Und er hatte gespürt, dass er ihren Respekt verlieren würde, ja womöglich ihre Zuneigung. Doch seither unterbrach er jeden Nachmittag seine Arbeit und schlenderte in den nahegelegenen Park und sehnte sich nach Maria. Es war eine traurige Sehnsucht, unerfüllt – aber es war auch eine heitere Sehnsucht, denn Maria hatte ihn von einer Hoffnung erlöst, der er – so gestand er es sich auf seinen Spaziergängen nach und nach ein – womöglich gar nicht gewachsen war.

Die Sitte der Studententreffen blieb bestehen. Einmal im Jahr, im Herbst, im Dorf. Im Hotel. Und Onorio predigte am nächsten Morgen. Milder als früher. Versöhnlicher. Und er freute sich ein ganzes Jahr auf die Begegnung mit Maria. Und auf den Glanz im Albergo. Auf ihr Lächeln. Auf ihr Lächeln voller Süsse …