… Nachlass – Er war Künstler gewesen. Und das hiess, dass er sich eine gewisse Exaltiertheit hatte zulegen müssen, ein Markenzeichen, und das war seine Art eleganter Kleidung, die ihn mit alten Meistern verband. Diese hatten sich bekanntlich stets modisch porträtiert. Schinzenberger hatte sich aber von diesen auch wieder rechtzeitig abgesetzt, indem er sich einen gewissen informellen Malstil zu eigen gemacht hatte, auch er modisch und trotzdem zeitlos, wie er befand. Und früh hatte er sich eine Galerie geneigt gemacht, die bekannt und erfolgreich geworden und international vernetzt war. So gelang es Schinzenberger, sich als Maler, als Kunstmaler einen Namen machen, ja es gelang ihm sogar, von seiner Kunst zu leben.
Er war eine bekannte Grösse geworden, seine Ausstellungen wurden in den Medien erwähnt und gerühmt, die Kritiken lobten seine Beständigkeit, die aber nie in Erstarrung mündete, sondern doch einen langsamen Wandel und Reifungsprozess ermöglichte. Schinzenberger lebte für seine Kunst.

Er war ein fleissiger Künstler – der aber auch Pausen einlegen konnte, bewusste schöpferische Pausen, in denen er herumzog, einem eher unsteten Leben frönte, das Mass im Essen und Trinken bewusst ausreizte, ja überschritt, und sich mit Frauen einliess, die auf ein grosszügiges Verwöhntwerden Wert legten und sich rasch wieder von ihm abwandten, was ihm durchaus gelegen kam. In seinen schöpferischen Phasen blieb er nüchtern, beinahe asketisch, doch zeigte dafür seine Malerei mit dem opulenten Bildformat, den kräftigen Farben und den verwegenen, doch bewusst gesetzten Pinsel- und Spachtelschwüngen eine von weitem wahrnehmbare Grandezza, die womöglich Grund für seinen Erfolg und seine Beliebtheit bei den kaufkräftigen Sammlern war.

So interessierten sich auch öffentliche Stellen für seine Arbeiten, und es gelang ihm, zu Ausstellungen im musealen Raum eingeladen zu werden; Schinzenberger zeigte Aktuelles oder Retrospektiven und wurde eine über die Landesgrenzen hinaus bekannte Kunstgrösse.

Doch er kam in die Jahre, Gebresten zeigten sich, und auch für ihn war das Altwerden keineswegs eine leichte Angelegenheit. Und rascher, als er es sich versehen konnte, war es so weit. Er wurde aus dem irdischen Leben abberufen. Doch Schinzenberger, der in lockeren Stunden immer wieder die Mitmenschen belächelt hatte, die an die Unsterblichkeit und an ein Leben nach dem Tode, ja an ein Leben in himmlischem Glück glaubten, an eine irgendwie geartete Erlösung von Übel und Tod, ausgerechnet Schinzenberger wurde für ein solches himmlisches Leben ausgesucht.
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… endlich wird etwas gegen die unerträgliche kulturelle Aneignung unternommen. Endlich hat der Vorgang überhaupt auch einen Namen: cultural appropriation. Dreadlocks, Rastas! Sie haben bei den Unsrigen nichts zu suchen. Dass solche Leute – auch wenn sie Landsleute sind – hier keine Musik mehr machen dürfen, ist völlig in Ordnung und sollte nur der Anfang sein. Reggae gehört ins Reggae-Land, nicht in die Schweiz. Man sollte noch viel schärfer gegen solche modischen Kulturvermischungen vorgehen, und Rastas unter den Unsrigen ganz einfach verbieten. Reggae-Musik ebenso. Die ganze Geschichte hat ja schon viel länger angefangen. Jazz – ein Kulturgemisch, eine Kultursauce. Gehört ins Ausland. Tango ebenfalls. Ja noch viel früher: Bach, Mozart, Schubert. Was haben die mit unserer Kultur zu tun? Nichts. Wir sollten uns wieder auf das Eigene besinnen, das ist erstens authentisch, und zweitens unverfänglich. Volksmusik. Sie gehört in die Kirchen und Konzertsäle. Mit ihr sind wir alle verbunden. Wagner wäre auch problemlos, schliesslich hat er hier gelebt – und hoffentlich auch Steuern bezahlt. Mendelssohn ist hier herumgereist und soll sogar eine Schweizer Symphonie geplant haben. Akzeptiert. Brahms eröffnete die Tonhalle in Zürich und dirigierte sein Triumphlied. Es ist also ein ausreichender Fundus an Musik vorhanden, und wir brauchen weder in die Karibik zu schielen und ihre Haartracht zu kopieren noch unser an Alphornklänge gewöhntes Gehör mit übernommener, aber kulturfremder Musik zu ruinieren. Mit den Frisuren nicht anders: Es sollte verboten sein, die Frisuren von Fussballstars oder Rockgrössen oder von Donald Trump zu kopieren. Sie alle haben ein Recht auf ihr – womöglich einziges – Alleinstellungsmerkmal.

Publiziert – mit Dank – als Leserbrief im St. Galler Tagblatt vom 29. August 2022 …

… in St. Gallen steht in grosser Neonschrift Tag und Nacht zu lesen: «Artists interpret the world and then we interpret the artists.» «Künstler deuten die Welt und dann deuten wir die Künstler.»

Das ist nichts anderes als moderne Theologie. Kant hätte jedem Leser der Neonschrift zugerufen: «Wage selbst zu deuten!» Natürlich deuten Künstler allesamt – jeder auf seine Art – die Welt. So wie wir alle die Welt deuten. Hoffentlich. Wir deuten dauernd alles rund um uns – und in uns -, machen uns ein Bild, um herauszufinden, was los ist und was wir als nächstes tun sollen.

Dabei ist klar: Wir sind gemeinschaftliche Wesen. Und so tauschen wir unsere Deutungen aus, teilen sie miteinander. Schärfen oder korrigieren je nachdem unsere eigene Deutung an derjenigen des anderen.

Richtig ist: Künstler und Wissenschaftler haben eigene Wege zur Deutung, genauer: zum Ausdruck ihrer Deutungen. Während die Wissenschaftler im Allgemeinen ihre Deutungen, ihre Interpretationen, in Buchstaben und Ziffern mitteilen, drücken die Künstler die ihrigen in Klang, gesprochenem Wort oder in Bildern aus. Sie erregen unmittelbar die Sinne; ihre Deutungen sind sinnlich, während die Wissenschaftler den Verstand mittels der symbolisierten Sprache ansprechen.

Beides hat seinen Sinn …

… denn wir leben nicht im Werk, sondern in der Wahrnehmung …

… so ist die Ästhetik eben nicht eine Lehre oder Wissenschaft, sondern eine Kunst, die es zu pflegen gilt …

… aber womöglich liegt der Irrtum darin, dass niemand die Wahrnehmung, dass sinnliche Anschauen als Kunst betrachtet und ehrt, sondern nur die künstlich geschaffenen Dinge …

… Welche Überheblichkeit, zu meinen, ästhetische Urteile hätten allgemeine Bedeutung und der Urteilende gelange durch sie zur Beherrschung der Kunst. Im Gegenteil gelangt er durch sie nur zur Herrschaft über seinen eigenen Geschmack …

… ich erwache nachts,
und der Zweifel beschleicht mich,
der Lebenssinnzweifel, der heimliche Schleicher,
der alles zerfrägelt, alles verneint und vernichtigt,
grinsend, überheblich und borniert,
und der nur zu gut um meine Grenzen und Schwächen weiss.

Doch dann erlöst der Schlaf, der tiefe Friede.

Und geweckt werde ich morgens
von der goldleuchtenden Schönheit,
der lächelnden, würdevollen.
Die Schönheit fragt nicht.
Sie erwartet nicht.
Sie ist göttlich …

… Selbstgespräch:
Ein neuer Tag bricht an – der Tag des Neuen Jahres.
Freue dich auf seine Gaben.
Nutze seine Zeit, doch missbrauche sie nicht.
Wahre seine Würde – und erweis dich seiner würdig.
Denn sein Glanz fällt auf deine Stirn
Und erhellt deinen Geist …

… Weihnachtsfeier – mit deinen Angehörigen. Noch eben warst du beteiligt. Du feiertest, plaudertest, genossest den Wein. Und plötzlich meinst du, weit weg zu sein, und Bilder drängen sich in dein Bewusstsein. Bilder von ihnen, den Deinen. Aus den verschiedensten Zeiten, ungeordnet, unzusammenhängend. Und du lebst in ihnen weiter, in diesen Bildern, nur Momente, nur verschwindende Augenblicke, Gedächtnisblicke. Und du lebst genau so in diesen Momenten, wie du in der Gegenwart lebst.
Für die Seele ist Zeit eine Einbildung …

… morgens – du erwachst – entrinnst den Träumen – noch ist es Nacht – und du hörst den Regen – weich, sanft, anhaltend – das blasse Licht lässt dich durch deinen vertrauten Raum blicken – deine vertraute Gegenwart empfinden – noch und noch – dich selbst. Du selbst. Ohne Geschichten. Ohne Pflichten. Ohne Begehren. Friede …

… in der Schmalspurbahn – Ein schwarzgekleideter, kleiner, dicker, alter Mann stemmt seinen ebenso schwarzen, dicken Koffer, den er mit Mühe bis zum Abteil geschleppt hat, auf die Bank, setzt sich schwerfällig gegenüber und wartet wie alle anderen Passagiere auf das ebenso schwerfällige Anrollen der alten Schmalspurbahn, der man immer noch täglich zumutet, die aus lauter Kurven bestehende Strecke durch alle Täler und über alle Berge zu bewältigen, und das tut sie auch, mit Ächzen und Stöhnen, Knarren und ab und zu gar mit einem Blitzen, ausgelöst vom hart gefederten Stromabnehmer.

Während der Fahrt sinkt er immer tiefer in sich hinein, der Schwarzgekleidete, und man fragt sich, weshalb er diese beschwerliche Fahrt unternimmt, weshalb er seinem Alter keine Ruhe gönnt. Wer fährt denn noch herum, wenn er es zu Hause bequemer und übersichtlicher hat, und wenn schon: dann hätte er wenigstens auf seinen massigen Koffer verzichten können – warum schleppt einer noch solche Gewichte herum? Für unverzichtbare Verwandtenbesuche reichen doch eine Zahnbürste und etwas Wäsche.

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… Ich liege auf dem Rasen im Park. Nacht ist es geworden, doch die Luft ist lau, und in meinem Arm liegt Liese. Ich liebe Liese, und ich liebe es, mich mit ihr im Park zu treffen, oder mit ihr in den Park zu spazieren, mich niederzulegen, Liese im Arm. Ihr Körper ist warm, ihr üppiger Körper, und ich liebe ihn, ihre weiche, mollige Art, sie ist auch seelisch mollig, so empfinde ich es, sie hat eine mollige Seele, und ich sehne mich nach ihrer Seele, wenn das auch komisch klingt, sich nach der Seele sehnen, denn sie, Liese, liegt ja da, es gibt nichts zu sehnen, wenn sie daliegt. Warum soll man sich nach etwas sehnen, das da ist, und doch ist es ein Sehnen, ich kann es nicht anders beschreiben, aber vielleicht ist Sehnen auch nur ein anderes Wort für das Verlangen, ihr noch näher zu sein, innig verbunden zu sein, mit ihr zu verschmelzen, so müsste ich es ausdrücken, verschmelzen ist nicht dasselbe wie sich lieben, sexuell lieben, verschmelzen ist ein anderes Gefühl, aber vielleicht lässt sich das auch nicht sagen, nicht genauer bestimmen, und es ist eigentlich unsinnig, solche Gefühle bestimmen zu wollen, an einem so schönen Abend, in romantischer Stimmung, so heisst es, aber für mich heisst romantisch gar nichts, es ist eher ein Wort, um nichts Genaueres zu sagen, so eine Umschreibung, und ich lehne Umschreibungen ab.

Jedenfalls liebe ich so einen Abend. Nichts, was dazwischenkommt, und dass man, wenn man so daliegt, doch irgendwelches Zeug denkt, weil es dazwischenkommt, ist ja vielleicht auch komisch, oder unsinnig, aber ich denke manchmal einfach auch solches Zeug und das ist weiter nicht schlimm.

Und so dunkelt es ein, und die Luft ist lau und mir fällt da im Park beim Eindunkeln die Neonschrift auf dem Museum vor mir auf, die habe ich früher gar nicht gesehen, Grossbuchstaben, warum schreibt man mit Neon auf Museen, und in der Nacht?

«A work of art without emotions is not a work of art.» Das zweite «work» allerdings ist nicht beleuchtet, aber man kann es doch wahrnehmen. Absichtlich nicht beleuchtet? Sicherung defekt, denke ich.

«Ein Kunstwerk ohne Emotionen ist kein Kunstwerk.» Ich frage Liese, was das bedeuten soll. Was sie dazu meint, aber sie döst. Meine Fragerei geht ihr ab und zu auf die Nerven, ich würde zu viel fragen, zu unsinnigster Zeit, meint sie, man soll das Leben geniessen, und nicht dauernd fragen, aber warum schreiben sie denn solches Zeug an die Wand, und was heisst denn «ein Kunstwerk ohne Emotionen»? Haben Kunstwerke Emotionen? Wirklich? Die meinen wohl Kunstbilder, das da vorn ist ja auch ein Kunstmuseum, also müssen Bilder gemeint sein. Die haben Emotionen? Ich frage doch Liese, und sie kuschelt sich nur an mich und meint, ich solle nicht solchen Blödsinn fragen, Kunstwerke hätten nicht mehr Emotionen als Regenschirme oder Eisenbahnschienen, aber ich denke, das ist nicht gemeint.

Oder doch? Haben die eine Seele? Eine emotionale Seele? Vielleicht verborgen? Ist das das Künstlerische? Künstliche? Die Kunstwerkseele, die emotional ist?

Und das da an der Wand – die Schrift, das Neonige: Ist denn das ein Kunstwerk? Oder grossflächige Belehrung? Sind Belehrungen auch Kunstwerke? Und sind Belehrungen in diesem Falle auch emotional? Die Neonschrift? Ein emotionales Wesen? Soll ich nochmals Liese fragen? Mich trauen? Meine emotionale Liese?

Ich will mich aufrichten, aber Liese zieht mich wieder zu sich herunter, an ihren Busen, der beseelt ist – das mindestens ist sicher, richtig warm und üppig und beseelt, und ich liebe diesen Körper, der keine solchen Neon-Behauptungen von sich gibt …

… Hör endlich damit auf, dein eigener Unterdrücker zu sein. – So die Schlagzeile vor einiger Zeit in der renommierten Zeitung. Die Dringlichkeit des Rates, der Aufforderung, ja des Befehls stach mir sogleich in die Augen. Jawohl! Ich war gemeint. Genau ich. Ich der ich mir seit jeher bewusst, schmerzlich bewusst bin, ein Duckmäuser, ein Kriecher, kurz ein Unterdrückter zu sein, und zwar unterdrückt durch niemand anders als durch mich selbst. Geknechtet. Und wodurch? Durch meine angeborene oder anerzogene Bereitschaft mich zu unterwerfen. Durch mein weicheierhaftes Bedürfnis, mich klein und unscheinbar zu machen und allerorts zu kuschen. Mich zu verleugnen, meine Vorstellungen für nichtig und nichtswürdig zu achten, sie schliesslich zu vergessen. Statt mich zu outen. Mich und meine Kreativität, meine Ideen, meine Projekte, meine heimlichen Ziele. Mein verborgenes Streben, nicht Knecht, sondern Herr zu sein. Endlich einmal zu sagen, wo es lang geht. Was zu tun und zu unterlassen ist. Mit den Staatsfinanzen, mit der Wirtschaft, mit dem Strassenbau und der Glasfaserplanung. Bei uns zum Beispiel haben sie die Glasfaserzulieferung voll verschlampt.

So las ich weiter. Denn hier ging es um meine Persönlichkeit; hier wurde beschrieben, wie ich mich von meiner Unwürdigkeit befreien konnte. Dass ich richtig lag, bezeugte das wundervolle Portrait der reizenden jungen Frau. Ihr Gesichtsausdruck bewies, dass sie wusste, wovon sie sprach. Ja, sie wirkte selbstbewusst – sie w a r selbstbewusst; der Blick ihrer tiefsinnigen Augen hatte etwas vornehm Magisches an sich, ich kann es nicht anders beschreiben, ihre sanften Lippen zeigten eine gelassene Strenge, die mich berührte und beeindruckte; unwillkürlich kam ich zur Überzeugung, dass sie und nur sie mir Rettung böte, dass sie mich zu meiner Selbstbestimmung führen, dass sie mich erlösen würde, und sogleich beschloss ich, mich in die Reihe ihrer Gefolgsleute, ihrer Follower einzugliedern.

Es zählen sich offenbar bereits Millionen dazu, die alle aufgehört haben, ihr eigener Unterdrücker zu sein. So kann es nicht falsch sein, mich auch zu diesen Followern zu zählen, zu ihrem Gefolge. Das ist allerdings ziemlich schwierig, denn ich bin der jungen und attraktiven Frau noch nie wirklich, das heisst in meinem realen Leben, begegnet, obwohl ich seit der Lektüre täglich nach ihr Ausschau halte.

Aber das ist wohl zu konkret gedacht, denn wenn ich sie auf der Strasse zufällig treffen würde, dann wären schon Millionen hinter ihr her, und ich würde es schwer haben, meinen Platz in ihrer Gefolgschaft zu finden. So muss ich mich auf mediale Bekanntschaft beschränken, das heisst, ich besuche sie seither regelmässig, täglich mehrmals, kenne sie also in- und auswendig, was umgekehrt nicht der Fall ist – sie scheint mich noch nie besucht zu haben.

Das ist auch nicht so wichtig, denn ihre Mitteilungen an mich sind viel tiefsinniger und reichhaltiger, als ich es je sein könnte. Sie informiert mich regelmässig, welche Sonnenbrillen sie trägt, welche Hosen und Tops, welche flauschigen Jupes und in welchen wohlgeformten Turnschuhen sie ihre zarten Füsse spazieren führt.

Ich kenne mittlerweile die kleinsten Details ihrer Kosmetik für Lippen, Wangen, Stirn, Ohren, Hals, Hände und Arme, und bin überrascht von der Geschwindigkeit, mit der sie stets neue Produkte findet. Bambus-Zahnbürstchen zum Beispiel, in Hunderten von Farben, oder Trainingsanzüge, denn sie macht – wie sie mich informiert hat – täglich Meditation und Yoga. Oder spaziert. Oder betreibt Fitness. Und ernährt sich gesund.

Und: Sie gibt immer gute Ratschläge. Immer. Zum Beispiel: Sei du selbst. Lass dich von Frauen, die du liebst, online inspirieren. Genau das tue ich, denn ich liebe sie, heimlich, die unendlich wandelbare Schönheit. Und ich lasse mich sogar warnen: Sei keine Kopierkatze. Um Himmels Willen: auf gar keinen Fall.

Und schliesslich gibt sie mir auf den Weg: Arbeite an deinen Seiten, regelmässig – die rechte Zeit und der richtige Rhythmus sind fundamental! Ich liebe Sie – meine Heldin und Lehrerin. Fürs Leben! …

… nel museo: «ASK ME» steht auf der Brust der jungen freundlichen Führerin durch die Design-Ausstellung. Design aus den Fünfziger-, Sechzigerjahren. Aus meiner Jugendzeit. Olivetti. Rechenmaschinen, Schreibmaschinen – die ersten Computer. Hier im Rahmen des damaligen Designs von Sofas, Nähmaschinen, Kleiderständer, Büchergestellen, Sesseln in allen Formen: vom Säulenkapitell bis zur überdimensionierten Kusslippe, von der zerquetschten Birne, die heute noch in Wohnungen steht, bis zum exquisiten Lederschaukelstuhl. Sie gleitet mit uns an Glastischen und elegant geschreinerten Kommoden vorbei, führt uns durch all die Schaustücke, die Erinnerungen an die Zeit wecken, in der ich so alt war, wie die Führerin heute.

Aber nicht die Erinnerungen stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern die junge Frau. Etwas blass, mit gewelltem hellbraunem Haar, schlank, mit Maske – die wir hier ja alle tragen, so dass nur die aufmerksamen, ja prüfenden blauen Augen unter den zarten Brauen genauer zu sehen sind.

Ihre freundliche Mühe, mit denen sie uns zusammengewürfelten Geführten die Gegenstände näherbringt, hat etwas Vertrauensvolles, Vertrauenerweckendes, und für eine Weile versinken wir alle in jene Zeit – wohl auch ausgelöst durch ihre Stimme, die mit Achtung, ja mit einem gewissen Stolz die Geschichte jenes Mann ins Zentrum setzt, der hier, in der Lombardei den Aufschwung massgeblich befördert hat: Adriano Olivetti. Schreibmaschinen sind zum Schreiben da – aber auch zur Ankündigung einer neuen Zeit. Einer Nachkriegszeit, einer Zeit, in der man nicht nur im Büro schreibt, sondern unterwegs, unterwegs in eine Zukunft, und so war Olivettis neue Schreibmaschine leuchtend rot, feuerrot, lippenstiftrot, farbig, um neue, farbenfrohe, erotische Gedichte zu schreiben, gefühlvolle, glühende, und nicht nur das, sondern auch Pamphlete, Aufrufe zum Sturz der damals geltenden, lähmenden Ordnung.

Hier im lombardischen Museum ist das Design vereint. Doch die zugeordneten Fotos zeigen die Differenzen. Die wohlgeformten Möbel aus edlem Tropenholz für die bürgerlichen Behausungen, die Kunststoffleuchte und das Transistorradio, die bald auch einmal im Warenhaus zu kaufen sind, für die Studentenbude. Jedenfalls Verheissungen. Die die Welt erstrebenswert machten.

Aus den Erinnerungen an jene Zeit folgen die Wünsche an die junge Designführerin, mit der ich gern noch etwas geplaudert hätte, doch war sie bald einmal mit ihrem Handy beschäftigt, und das bedeutet heutzutage: Stör mich nicht! Ja, gewiss, ein gewisser Widerspruch zur Aufschrift auf ihrem Pullover.

Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit meinen Gedanken zu ihr auseinanderzusetzen. Denn ohne Zweifel ist sie selbst Studentin, und ohne Zweifel selbst an der Schule für Design. Und bald schon Mitdesignerin bei einer neuen Verheissung, bei einem neuen Anrollen des Gedankens, der Ideen, der Gestaltung, in einer neuen Welt, mit neuen Formen, neuen Farben, neuen Konstrukten und neuen Plätzen, Häusern, Wohnungen, Tischen, Tellern, Gebäcken. Und allem kommt neue Bedeutungen zu, neue Funktionen, oder vielmehr: keine Funktionen mehr, alles wird sich zu einem Spiel entwickeln, und die Formen würden nicht mehr den Funktionen folgen, sondern die Funktionen würden sich im Spiel der Formen finden.

FFF war ohnehin nur eine Werbemasche: form follows function. Die Form hat sich nie der Funktion unterworfen, sondern ist ihr immer vorausgeeilt, oder hat sie wenigstens eingepackt. Verhüllt wäre das bessere Wort.

In der neuen Welt würde das Museum würde seine angestammte Funktion verlieren, oder wenigstens verändern, denn es wäre nicht mehr Präsentiertablett vergangener Entwürfe und Geräte, sondern Spielort zukünftiger Formen.

Das wird seine Zeit dauern, und unser Olivetti-Fräulein wäre nicht mehr so ganz jung, sondern reife Frau und stolz ihre eigenen Entwürfe, und der verblichene Adriano wäre nur noch im Hintergrund, lächelnd, seinerseits stolz auf seine Nachfolgerin …

Er schlenderte in seinem eleganten …

Er schlenderte in seinem eleganten, vor kurzem erstandenen Mäntelchen der Strasse entlang, blieb ab und zu vor einem Schaufenster stehen und blickte mit mässigem Interesse in die Auslagen. Sein Hinken war im Laufe der Zeit derart gering geworden, dass es nur noch von einem aufmerksamen Betrachter wahrgenommen wurde. Er hatte Gott weiss wie lange geübt, empfand er doch seine Behinderung als ausgesprochen beschämend, zumal sie gar keine wirkliche war. In Wahrheit war er höchst schnellfüssig und hätte den Wettkampf mit jedem aufgenommen, gehörte es doch gerade zu seinen Stärken, zu jeder Zeit da und dort und überall und nirgends zu sein.

Schnelligkeit und Präsenz gehörte zu seinen Aufgaben, die ihm sein Herr zugeteilt hatte, und so schnell der Meister Raum und Zeit durcheilte, so schnell war auch er zur Stelle, er, der Teufel, der Diabolos. Das hiess nicht, dass er stets seinem Herrn folgte, im Gegenteil; er mied ihn, wo und wann er nur konnte, und leuchtete sein Meister im Sonnenglanz, so suchte er verhüllt die Dunkelheit, war aber jener Herr verborgen und aus der Schöpfung verschwunden, so tänzelte er im Schein der Bühne und grüsste das Volk und seine Bewunderer auf alle Seiten.
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Ich ging die Strasse hinunter, unaufmerksam und in meine Einkaufsliste versunken, als über ein Treppchen eine junge Frau auf den Gehsteig hinausschoss und um ein Haar in mich geprallt wäre. Im letzten Ausweichen entschuldigte sie sich flüchtig und war sogleich verschwunden.

Ich schritt weiter, meine Liste war weg und hatte dem Bild eines bleichen, dünnen Gesichts Platz gemacht. Eine unbestimmte Furcht zeigte sich darauf, allein dem ersichtlich, der, wenn auch nur für einen Moment, ihm so nahe gekommen war.


… wenn ich wie gestern Nacht am dunklen Nachbarhaus vorbeigehe, überkommt mich eine traurige Stimmung, denn das Haus in seiner ganzen Massigkeit steht unerleuchtet da, dumpf vor sich hin brütend, und es sinniert wie ich am Vergangenen herum, an den Zeiten, da seine Bewohner zu heiteren Sommerabenden im Garten einluden, Freunde und uns Nachbarn, und wir fröhlich gestimmt das Leben genossen. Getrennt haben sie sich, aus unbekannten, unbestimmten und unwägbaren Gründen; sie haben das Weite gesucht – vielleicht – und uns mit den Erinnerungen zurückgelassen …

Sie trug einen schwarzen, büromässigen …

Sie trug einen schwarzen büromässigen Anzug, Stiefelchen mit festen, hohen Absätzen; sie war auch büromässig schlank, hatte Kopfhörer über ihr blondes Haar und ihre Ohren geklemmt und einen Laptop auf den Knien platziert. Arbeit. Büro – in der Eisenbahn. Und: Sie war am Telefon. Sprach dabei laut und vernehmlich. So laut, dass die Nachbarschaft gezwungen war, Zeugen des halben Dialogs zu werden – die andere Hälfte verschluckten die Kopfhörer.

Die alltäglichste Szene heutzutage, doch habe ich ihre Bedeutung immer noch nicht verstanden, denn wozu werden für solche Mono-Dialoge Zeugen benötigt? Ich weiss. Man wird mir entgegenhalten, dass dieses Mithören durch Nachbarn eine vernachlässigbare Kollaterale sei, bedingt durch optimales Nutzen der Zeit, hier also der Reisezeit, für allerlei Verhandlungen.

Und genau darum schien es bei dem längeren Gespräch gegangen zu sein: um Verhandlungen. Unklar blieb dabei für die Zeugen, und das war das Irritierende, ob es um private oder geschäftliche Verhandlungen ging. Um die Vereinbarung eines Treffens, um die gegenseitige Annäherung – doch eines Treffens wozu? Für Geschäfte? Für eine Anstellung? Einer Annäherung wofür? Für ein gemeinsames Projekt? Ein Frau-Mann-Projekt? Jedenfalls war die junge Frau zielstrebig bemüht; sie sprach mit deutlichem Charme in der Stimme und genau dieser Charme war undefiniert – ging’s um ein Ding oder um den Mann, den Mann als Mann, als männliches Subjekt.

Der Mithörer konnte nicht anders, als sich in dieses Subjekt auf der anderen, virtuellen Seite zu versetzen. War wenigstens diesem die Sachlage klar? Oder genau so unklar? Versuchte er das herauszufinden? Ob er geschäftliches oder männliches Subjekt war? Spürte er, dass er umworben wurde? Und wusste er, zu welchem Zwecke? War ihm klar, dass Mithörer am Gespräch – wenigstens passiv, leidend, mitleidend – teilnahmen?

Nicht unerhebliche Fragen, denn sie könnten den Lauf der Dinge beeinflussen. Mithörer dabei zu haben mochte die Eitelkeit der Telefonierenden reizen, das Bewusstsein der Macht öffentlich zu machen, einen Mann weit in der Ferne auf die richtigen Wege zu bringen – oder im Gegenteil Scham und Schande auslösen, wenn zum Beispiel der unbekannte Umworbene unerwartet das Gespräch unterbrechen würde.

Der schreibende Mithörer blieb jedoch am Geschäft-versus-privat-Dilemma hängen; er wand sich geistig unter dieser Unentschiedenheit, und wenn er das Wort «bezirzen» für diese telefonische Bemühung unangebracht hielt, so kam ihm doch jene antike Göttin in den Sinn, Kirke, die auf ihrer Mittelmeerinsel in einem üppigen Park hauste und mit ihren Speisen und Tränken alle von den Stürmen und Wellen ans Ufer gespülten Männer verzauberte und zähmte, um ihr Zirzenparadies damit zu bevölkern.

Höchst erotisch wurde sie gemalt, jene Kirke, vor allem in neuerer, romantischer Zeit, doch der alte Homer gab ihr deutlich nüchternere Züge: Bei ihm verfolgte sie geschäftig ihre Zwecke, und ihre Verführungskünste waren nicht lustergeben, sondern absichtsvoll und erfolgsorientiert.

Der immer noch gezwungenermassen Mithörende erwog bereits, unauffällig das Seinige zu packen und andere, weniger gefährliche Lagerplätze zu suchen, doch seine schwelende Furcht erwies sich als unbegründet: Bereits bei der nächsten Station packte die Zauberin all ihre Utensilien, verstaute sie in einer grossen Tasche und stolzierte mit lautem Pochen ihrer Stiefel und hochgerecktem Kopf am erschauernden und sich duckenden Nachbarn vorbei zur Ausgangstür.

Gerettet!

… mir vorstellen», meinte sie, «meinen Lebensabend in …

Sie sassen im Nebenabteil, eine Frau und ein Mann, befreundet, ein befreundetes Paar, eine Lebensgemeinschaft, vielleicht noch nicht lange, zwei Kinder daneben, beinahe schon Jugendliche, die während der ganzen Fahrt schwiegen. Vertieft in ein Handyspiel. Nur das Paar sprach. Laut.

Darf man Leute belauschen? Nein, das darf man natürlich nicht. Aber darf man andererseits in der Eisenbahn so laut sprechen, dass die Nachbarn unwillkürlich ab- und auf sich gelenkt werden? Ja, das wiederum ist gestattet. Denn es könnte ja sein, dass auch die weitere Umgebung über die eigene Weltgewandtheit informiert sein will. Die Eisenbahn ist ein idealer Ort dafür.

«Ich könnte mir vorstellen», meinte sie, «meinen Lebensabend in Zobriswil zu verbringen. Ein schönes Dorf.»

Wir fuhren eben am Zobriswiler Bahnhof vorbei. Kiosk, Parkplatz, verlassener Schuppen, das Bahnhofplätzchen, Wohnhäuser, ein kleiner Bauernhof, Berge dahinter, dann bereits wieder Wiesen und Obstbäume. So, wie es eben hierzulande aussieht. Durchs andere Wagenfenster ist der Fluss sichtbar. Hierzulande sind immer Fluss und Berge sichtbar.

«In Zobriswil. Unbedingt, ein schöner Ort. Schöne Häuser. Auch landschaftlich schön. Man kann wandern.» Nach einer Pause präzisierte sie: «In Zobriswil, im Alter – ohne weiteres. In Zobriswil – oder in Marrakesch.»

«In Marrakesch?», fragte er.

«Genau, in Marrakesch. Marrakesch ist ebenfalls schön. In Marrakesch könnte ich leben.»

Er sei auch schon einmal dagewesen, in Marrakesch, offenbar nicht mit ihr, sondern sonst einmal. «Marrakesch ist wirklich schön», betonte sie, «man kann da ohne weiteres sein.»

Er bestätigte, dass Marrakesch schön sei, aber er seinerseits könnte sich genauso gut vorstellen, einmal in Kalamata zu leben, Kalamata sei ebenfalls wunderschön. Das kenne sie nicht, meinte sie, … Er unterbrach, das sei in Griechenland, und es sei schön. Am Meer.

Kalamata oder Marrakesch, oder Zobriswil. Nein, sie kenne in Zobriswil eigentlich keine Leute, sie sei aber schon mehrfach dagewesen und könnte da wohnen. Im Alter. Es folgten Hinweise auf frühere Reisen und die Pläne für die Reisen im nächsten Jahr, und man müsse früh buchen, und nicht so ganz klar wurde, ob sie künftig miteinander reisen würden, der Mann empfand es jedenfalls als seine Aufgabe, allfällige Reisewünsche in Planbares umzuwandeln, er kenne sich gut aus im Vorbereiten von Reisen.

Das Alter ist die Zeit, in der man nicht mehr arbeiten muss, sondern pensioniert ist und die verdiente Pension geniessen kann. Man kann darüber hinaus wählen, ob man in Marrakesch, Kalamata oder Zobriswil wohnen will. Es ist die Traumzeit und das Traumland. Das Land wo alles möglich ist. Vielleicht könnte man sich auch eine Wohnung in Marrakesch besorgen und eine in Kalamata und eine dritte in Zobriswil. Und dann könnte man nach Lust und Laune, von einem Ort zum anderen fliegen, von Kalamata nach Zobriswil, von Zobriswil nach Marrakesch nach Lust und Laune, und natürlich auch gemäss den klimatischen Verhältnissen.

Im Winter könnte es allerdings je nachdem kalt sein, nicht in Zobriswil, sondern in Kalamata zum Beispiel, denn die Wohnungen haben da nicht unbedingt Heizungen. Die könnte man natürlich einbauen. Man könne in Kalamata ohne weiteres eine Heizung einbauen lassen, aber man müsste sich vorsehen, womöglich kennen sich die Sanitärinstallateure in Kalamata nicht wirklich aus und haben nicht unseren Standard und man müsste somit alles hierzulande besorgen und hinbringen. Aber dann könnte man ohne weiteres den Lebensabend …